Antonio Ortuño – Die Verbrannten

Einen beschwerlichen Weg erwartet die Mittelamerikaner, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben versuchen, Mexiko zu durchqueren und illegal in die USA einzuwandern. Viele bezahlen dafür mit dem Tod – so auch in Antonio Ortuños „Die Verbrannten“, einem schonungslosen Roman, dessen Plot allerdings ein wenig überschaubar ist.

Während die Mexikaner in den USA als Menschen zweiter Klasse gelten, so sind es in Mexiko die Mittelamerikaner, die von vielen stark diskriminiert werden. Für sie ist es doppelt so schwierig, in das vermeintlich gelobte Land Amerika einzureisen, denn dafür müssen sie ganz Mexiko durchqueren. Die wenigsten schaffen das (und stehen dann vor dem gleichen Problem wie die mexikanischen Flüchtlinge: der Grenze zwischen Mexiko und den USA). Dem Großteil blüht im besten Fall, hochverschuldet zurück in ihr Heimatland geschickt zu werden, aber auch das sind Ausnahmen. Für die anderen bedeutet die lange Reise Erniedrigung, Vergewaltigung, Folter, Tage ohne Wasser und Nahrung und mitunter auch den Tod.

„Millionen von uns gehen in die Vereinigten Staaten. Gleichzeitig machen Hunderttausende aus Zentralamerika dasselbe. Nur, dass sie, um dorthin zu kommen, unser Land durchqueren müssen. Jeder von uns ist illegal in den Vereinigten Staaten, aber nicht jede Einreise ist die verdammte Hölle.“

Zum Vorort dieser Hölle wird die fiktive südmexikanische Stadt Santa Rita, eine Transitzone ohne nennenswerten Eigenschaften: „Santa Rita kam mir vor wie ein Ort, aus dessen Stadtbild man alle wesentlichen Identitätsmerkmale entfernt hatte: Es gab keine Kreisverkehre, Paläste, Universitäten, Industrieparks, Boulevards, Wohnanlagen oder Malls; lediglich einen Hauptplatz mit einem Kiosk, Büschen und Bänken und um ihn herum zwanzig gepflasterte Straßen…“

Gleich auf den ersten Seiten von „Die Verbrannten“ sterben bei einem Brandanschlag vierzig Mittelamerikaner, als ihre spartanische Notunterkunft angesteckt wird. Möglicherweise das Werk konkurrierender Schlepperbanden? Wer weiß das schon, wen interessiert das in Santa Rita schon. Die Nationalkommission für Migration (NkM) Santa Ritas, die mit der Aufklärung des Attentats betreut ist, tut das, was sie in einem solchen Fall immer macht: Nichts. Sie übermittelt in einer Pressemitteilung ihre Empörung und verspricht, nach bestem Gewissen die Tat aufzuklären. Oh, süßer Zynismus! Diese Pressemitteilung findet sich in nahezu gleichbleibendem Wortlaut mehrfach in Ortuños Roman, ohne dass je ein Mensch für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird. Ganz im Gegenteil: In Santa Rita sterben die Menschen wie die Fliegen – und keinen interessiert’s.

Irma, genannt La Negra, wird mit ihrer Tochter nach Santa Rita versetzt, um die NkM in ihrer Arbeit zu unterstützen. Schnell wird deutlich, dass sie höchstens als Aushängeschild der Nationalkommission fungiert, denn um Aufklärung ist hier keiner bemüht. Sukzessive erfahren der Leser und La Negra von der Korruption und den kriminellen Machenschaften der NkM. La Negra beabsichtigt unterdessen, Yein, eine der wenigen Mittelamerikanerinnen, die den Anschlag überlebte, zu helfen. Sie hat Mitleid mit der jungen Frau und mit ihr zugleich eine Zeugin, die helfen könnte, die Verantwortlichen zu stellen. Es ist allerdings ein halbherziges Engagement; bis zum furiosen Finale bleibt La Negra erstaunlich passiv. Die gesamte Handlung um La Negra, die zumeist sehr naiv handelt, ist teilweise zäh und vorhersehbar – ihre Rolle als hoffnungstragenden Gegenpart zum Grauen in Santa Rita füllt sie nicht aus.

Großen Raum bekommt in dem Roman der Ex-Mann La Negras, der nicht in Santa Rita lebt und auch nicht mit dem Geschehen verknüpft ist, dessen Gedanken zu dem Thema Migration aber einen tiefen Einblick in die Vorurteile vieler Mexikaner vermittelt. Als er einer hungernden mittelamerikanischen Frau zunächst kleine, schlecht bezahlte Arbeiten gibt und letztlich beschließt, sie als seine private Haussklavin zu halten, eröffnen sich fern der Stadt Santa Rita neue Dimensionen des Horrors in Mexiko.

„Die Verbrannten“ ist ein Roman, der auf sehr zynische und dadurch verstörende Weise mit dem Thema Flüchtlinge umgeht. Die nüchterne Sprache Ortuños steht im krassen Kontrast zu den beschriebenen Verbrechen. Da freut man sich in Santa Rita schon mal, wenn in San Fernando im nördlichen Bundesstaat Tamaulipas viel öffentlichkeitswirksamere Massengräber ausgehoben werden, weil Santa Ritas vierzig Tote somit aus der Presse verschwinden. Das größte Schreckensszenario ist aber nicht die Gewalt, sondern der Alltag, der ganz gleich, was geschieht, immer weitergeht.

Trotz des drastischen Inhalts ist die Realität in einigen Gegenden Mexikos sogar noch grausamer, als es Antonio Ortuño schildert (die 72 Toten von San Fernando gab es zum Beispiel wirklich). Ungeachtet dessen ist „Die Verbrannten“ ein wichtiges Buch, das hierzulande auf die Gewalt an mittelamerikanischen Flüchtlingen aufmerksam macht und zugleich die deutschsprachigen Leser daran erinnert, dass Flucht und Migration keine europäischen Phänomene sind.

Antonio Ortuño – Die Verbrannten
Aus dem Spanischen von Nora Haller
Verlag Antje Kunstmann, München
September 2015, 206 Seiten

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