Nathan Hill – Geister

Ein klassischer, intelligent konstruierter US-amerikanischer Gesellschaftsroman: Nathan Hills Debüt „Geister“ hat eine breitgefächerte Handlung, die gut ausgearbeitete Figuren, drei Zeitebenen und das Leben in mehreren Orten in den USA geschickt miteinander verwebt.

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„Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Lieblingszeitvertreib der Amerikaner längst nicht mehr Baseball, sondern die Zurschaustellung der eigenen moralischen Überlegenheit ist.“

Geister. Die Geister der Vergangenheit, die einen nicht in Ruhe lassen, so sehr man sie zu verdrängen versucht, und auch die Nisse, Geister oder Kobolde aus nordischen Ländern, die einen ins Verderben stürzen und die für die Protagonisten eine wichtige Rolle spielen. Im Original heißt Nathan Hills Debütroman „The Nix“ und ist somit klar auf die Geister auf dem Norden bezogen. Die deutsche Übersetzung, „Geister“, lässt mehr Interpretationsspielraum zu, aus gutem Grund: Hills Figuren, allen voran die beiden Protagonisten Samuel und Faye, haben Schwierigkeiten damit, ihre Vergangenheit ruhen zu lassen.

Samuel arbeitet als Literaturprofessor in der Nähe von Chicago und widmet sich in seiner Freizeit intensiv einem Computerspiel. Seine Lethargie wird unterbrochen, als er erfährt, dass seine Mutter Faye Hilfe bei einem Gerichtsprozess braucht. Samuel allerdings hat herzlich wenig Interesse daran, Faye zu helfen. Sie gehört zu den Geistern seiner Vergangenheit: Faye verließ Mann und Sohn, als letzterer elf Jahre alt war. Die Bitte um Hilfe ist seit mehr als zwei Jahrzehnten ihr erstes Lebenszeichen. Elf stellt sich als das entscheidende, das prägende Alter für Samuel heraus. In dem Jahr, in dem seine Mutter ihn verlässt, lernt er auch die Zwillinge Bishop und Bethany kennen, die weitere Geister in Samuels Leben sind. Seinen Freund Bishop verliert er wieder aus den Augen, kann ihn aber nicht vergessen. Und Bethany kürt er zur Liebe seines Lebens, die er regelmäßig googlet, ohne den Kontakt mit ihr zu halten.

Ein öffentlicher Auftritt des Gouverneurs Packer stößt die Handlung an. Zwar bleibt er als Figur passiv, im Hintergrund, agiert nicht mit den anderen Charakteren, in Zeiten wie diesen ist es dennoch unmöglich, nicht intensiver auf Packer einzugehen. „Man hat immer wieder den Eindruck, dass die Worte exakt in dem Moment seinen Mund verlassen, da sie ihm in den Sinn kommen. Er redet, ohne sich um Kontext oder Syntax zu scheren oder auch nur zu versuchen, seine Sätze inhaltlich mit dem in Verbindung zu bringen, was gerade Thema ist“, charakterisiert Hill den Politiker, der bereits früh im Roman als Präsidentschaftskandidat gehandelt wird. Sounds familiar? Nathan Hill lässt über seine politische Gesinnung keine Zweifel offen. „Kaum dass sie den Fernseher einschalteten, sahen sie in den Nachrichten Bilder von einer weiteren verdammten humanitären Krise, von einem weiteren gottverdammten Krieg an einem gottverlassenen Ort, sahen Bilder von verwundeten Menschen und hungernden Kindern und empfanden eine schreiende, bittere Wut auf diese Kinder, weil sie in die einzigen Momente der Entspannung eindrangen und die wenige Zeit zerstörten, die ihnen vom Tag noch blieb“, ist beschreibt der Autor die Bewohner des reichen, weißen Viertels, in dem Bethany und Bishop leben.

So ist es nicht verwunderlich, dass ein politischer Akt die Handlung ins Rollen bringt: Eine ältere Frau wirft spontan Kieselsteine auf Gouverneur Packer, immer und immer wieder. Dieser reflexartige Angriff führt im Laufe des Romans dazu, dass die Beliebtheit des erzkonservativen Politikers steigt und er sich ernsthafte Chancen für das Präsidentschaftsamt ausrechnen kann. Vor allem aber wird Samuel dazu gezwungen, sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen: Der „Packer-Attacker“, wie die Frau genannt wird, ist nämlich seine Mutter Faye. Und da Samuel seinem Verleger seit zehn Jahren ein Buch schuldet, geht er einen Deal mit ihm ein: Er wird ein Enthüllungsbuch über seine Mutter schreiben, das sie in möglichst schlechtem Licht darstellen und noch vor dem Wahlkampf erscheinen soll. Es ist ein faustischer Pakt, klar. Wie zu erwarten entwickelt Samuel, nachdem er sukzessive ihre Geschichte erfährt, Verständnis für seine Mutter, sogar dafür, dass sie ihn dreiundzwanzig Jahre zuvor verließ, ohne zurückzublicken. Unterdessen wird die öffentliche Wahrnehmung Fayes im Laufe der Wochen immer negativer. Schnell ist sie nicht mehr der „Packer-Attacker“, sondern eine gefährliche Terroristin. Beim Prozess gegen sie soll Richter Charlie Brown den Vorsitz haben. Er ist, ohne dass Faye es ahnt, ein Geist ihrer Vergangenheit, der die Chance gekommen sieht, sich an ihr zu rächen. Sie sind sich schon einmal begegnet, 1968 bei den Riots in Chicago – Faye auf Seiten der Demonstranten, Charlie Brown damals noch als junger, wütender Polizist.

Die amerikanische Art, simple Aussagen als rhetorische Fragen zu verpacken, ist mitunter enervierend, und auch mit der Kursivschreibung meint es „Geister“ ein wenig zu gut. Inhaltlich mutet merkwürdig an, dass die drei Monate im Alter von elf Jahren, in denen Samuel mit Bishop und Bethany befreundet ist, einen so tiefen Einfluss auf das Leben hat – und das nicht nur auf Samuels Leben, sondern auch auf das der Zwillinge. Aber schreiben wir das dem Land der Fiktion zu. Stärker kritisieren könnte man, dass der Roman tendenziell sehr ausführlich wird, wenn es um absolute Nebenfiguren wie Pwange geht, den Samuel über das Computerspiel kennt. Diese Kapitel nehmen „Geister“ ein wenig den Schwung.

Von diesen Details abgesehen legt Nathan Hill einen US-amerikanischen Gesellschaftsroman par excellence vor. Geschickt verbindet er die Leben seiner Protagonisten miteinander. Auf gut 850 Seiten entfaltet Hill in seinem Debütroman ein breites, gesellschaftliches Panorama. Samuels und Fayes Leben wird in drei verschiedenen Zeitsträngen – 1968, 1988 und 2011 – nach und nach aufgerollt und damit auch die Geschichte und Politik der USA. Vor den großen Themen schreckt Hill nicht zurück. Neben der Familiengeschichte, der Gesellschaft und der Politik, handelt „Geister“ vor allem von Protest und Widerstand, aber auch von Freundschaft, Liebe, dem Verlust dieser Beziehungen und dem Verdrängen der Realität, außerdem, von starken Emotionen wie Scham, Reue, Sehnsucht und, nicht zuletzt, von der Hoffnung.

Zum Weiterlesen: Jonathan Lethem – Der Garten der Dissidenten

Nathan Hill – Geister
Aus dem Englischen von Kathrin Behringer und Werner Löcher-Lawrence
Piper, München
Oktober 2016, 858 Seiten

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