Shortlist-Lesung im Literaturhaus Frankfurt: Menasse, Salzmann und Lehr

Der dritte Podiumsgast an diesem Shortlist-Abend ist Robert Menasse (dem ich gemeinsam mit Franzobel die größten Chancen auf den Sieg des Deutschen Buchpreises einräume), moderiert von Gert Scobel. Diese Kombination entpuppt sich als fatal – Menasse hat sichtlich keine Lust auf Scobel und Scobel selbst ist nicht in der Lage, Menasses staubtrockene Art aufzufangen. „Ich freu mich schon auf die Pause, wenn ich rauchen kann“, knurrt der Autor gleich zu Beginn.

Die „Querschnittsmaterie Schwein“ spiele in seinem Roman eine große Rolle, so Menasse. Da ist es kein Zufall, dass „Die Hauptstadt“ auch mit einem durch Brüssel galoppierenden Schwein beginnt. „Das Schwein ist eine Universalmetapher, von Glücksschwein bis Drecksau“, kulturell, politisch und gesellschaftlich habe immer das Schwein herhalten müssen, „Schweinebraten, Judensau, Sparschwein…“, zählt Menasse auf. Und auch die EU, um die es in seinem Buch geht, sei „als politisches Kalkül wie die Sau durchs Dorf“ getrieben worden, zudem könne man ihre Bürokratie mit dem Schlachten von Schweinen vergleichen: Für alle Schritte der Verarbeitung ist immer ein anderer zuständig. „Aber in dem Roman geht es nicht nur um das Schwein!“, schiebt Menasse hinterher. „Verwirren Sie die Zuschauer nicht“, versucht es Scobel mit einem missglückten Witzchen und wird von Menasse eiskalt ignoriert.

Die Idee, einen Roman über die Europäische Kommission zu schreiben, sei ihm gekommen als ihm auffiel, dass es bisher kein literarisches Werk dazu gebe, erzählt der Schriftsteller. „Die Europäische Kommission ist eine eigentümlich gesichtslose Institution. Zugleich wurden zum ersten Mal die Rahmenbedingungen eines gesamten Kontinents in einer Stadt bestimmt – und das ausgerechnet im imagelosen Brüssel, das so anders ist als Paris oder New York.“ Von 2010 bis 2016 war Menasse in der belgischen Hauptstadt, um sich intensiv mit der Kommission zu beschäftigen. „Während meiner Recherchen habe ich zunächst diskursive Essays geschrieben“, erzählt er. „Als ich mir alles von der Seele geschrieben hatte, musste ich nicht mehr erklären, was ich gelernt hatte, und konnte mit dem Roman beginnen.“

Sasha Marianna Salzmann ist mit ihren 32 Jahren die mit Abstand jüngste Autorin des Abends und auch die einzige Debütantin. Moderatorin Sandra Kegel hakt zunächst bei Salzmanns Theaterkarriere nach: Mache es denn einen Unterschied, einen Text für die Bühne oder einen Roman zu schreiben? Salzmann wägt ab: Beim Theater könne man direkt auf politische Ereignisse reagieren. Und natürlich sei das Prosaschreiben eine „Langzeitbeziehung mit der Einsamkeit“, ganz anders als das Theater. Mit „Außer sich“ begann sie während eines längeren Aufenthalts in Istanbul. „Eigentlich wollte ich über die Gezi-Park-Proteste schreiben“ – von denen im Roman nur noch Andeutungen gelandet sind.

Wenn man sie bitten würde, ihr Buch kurz zusammenzufassen – worum geht es?, möchte Sandra Kegel wissen. Salzmann lacht: „Na, das werde ich momentan fast täglich gefragt. Ich sage immer was anderes, zuletzt, dass er von einer jüdischen Familie handelt. Danach gab es keine Fragen mehr.“ Der Versuch, die Bruchstücke von Erinnerungen zusammenzusetzen und zu verstehen, dass dies nicht geht, sei ein zentrales Motiv in ihrem Roman. „Meinen Schreibschülern sage ich immer: Schreiben ist wie eine Zwiebel, man enthüllt Schicht um Schicht – und landet am Ende immer bei der eigenen Mutter.“

Sie habe nicht gewusst, dass sie über diese Themen schreiben wolle, über die sie schließlich schrieb, kommt Sasha Marianna Salzmann wieder auf die Ausgangsfrage zurück. „Istanbul, Transgender, das sind derzeit Modethemen. Aber für mich ist das meine Lebensrealität. Ich habe mich in Istanbul fallengelassen und die Trans-Community hat mich aufgefangen.“ Sie habe sich selbst zwingen müssen weiterzuschreiben, gibt die Autorin zu. „Ich habe mir gesagt: Es tut weh. Also schreib weiter.“ Und zum Abschluss des Gespräch hat sie noch einen Literaturtipp parat: „Es vergeht kaum ein Monat, in dem ich nichts von James Baldwin lese.“

Nach Franzobel, Poschmann, Menasse und Salzmann beenden Thomas Lehr und Alf Mentzer den Abend. Er wolle ja keinem Angst vor „Schlafende Sonne“ machen, so Mentzer, aber für die Lektüre benötige man doch einiges an Ausrüstung: Man müsse sich mit Platon auskennen, mit Heidegger, der Quantenphysik… Es sei ein wenig wie das Matterhorn erklimmen zu wollen. Lehr greift amüsiert die Metapher auf: „Na, wenn ich das Matterhorn bin, dann ist James Joyce aber der K2!“

Der zeitliche Ausgangspunkt von Lehrs Roman ist ein Augusttag im Jahr 2011, von dem aus er ein ganzes Jahrhundert, fast mehr, beschreibt. „Deswegen befinden sich meine Figuren auf einer Kunstausstellung“, erklärt Lehr. „Sie ist das Zentrum, um die sich die Spirale der Zeit dreht. Die verschiedenen Räume stehen sozusagen für die Simultanität der Zeitgeschichte.“ Der Roman, übrigens nur Teil eins einer geplanten Trilogie, ist „ein Projekt, das mich selbst an die schriftstellerischen Grenzen bringt“: Bei dem Verfassen von geplanten 1500 bis 2000 Seiten verändere man sich als Autor. „Schlafende Sonne“ habe er übrigens antipodisch zu „Nabokovs Katze“ (von 1999) angelegt, erzählt Lehr, und deswegen die Perspektive einer jungen Frau gewählt, die ihm „im Kopf rumspukte“.

Dieses „Monstrum“ wie der Autor selbstironisch seinen eigenen Roman bezeichnet, sei ihm beim Schreiben entglitten, aus einem Physiker wurde beispielsweise ein Solarphysiker. „Licht in all seinen Facetten reizt mich. Es ist ein Motiv des 20. Jahrhunderts: Die Realitätstheorie, und in der Malerei und Philosophie, auch politisch, immerhin gilt die Sonne als Symbol der Macht, von Echnaton bis zum Hakenkreuz.“ Erneut betont Alf Mentzer, er wolle niemanden von diesem Roman abschrecken, und erreicht durch diese Wiederholung beim Publikum eher das Gegenteil. Lehr nimmt’s mit Humor. „Glauben Sie mir: Viel schlimmer als diesen Roman zu lesen ist, ihn zu schreiben!“

Auch meine Buchpreisbloggerkollegin pinkfisch war an diesem Abend im Literaturhaus Frankfurt.


Ein Gedanke zu “Shortlist-Lesung im Literaturhaus Frankfurt: Menasse, Salzmann und Lehr

  1. Vielen Dank für die Eindrücke! Da rücken die Nominierten und ihre Romane gleich noch näher an einen heran! Ich bin sehr gespannt, wer den Buchpreis heute Abend entgegennehmen wird. Ich würde auch auf Menasse tippen. Aber vielleicht ist sein Roman nicht literarisch genug? Ich lag leider in den letzten Jahren mit meiner Prognose immer daneben.

    Liebe Grüße!

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