Ruth Cerha – Traumrakete

Eine Selbstfindung der anderen Art: Dave ist Mitte vierzig, von seiner Ehefrau und den älteren Kindern entfremdet, vom Vater sowieso, der Job strengt an, die Depression lauert immer ums Eck. Eine Reise in seine alte Heimatstadt New York soll ihm helfen, seinen Albträumen auf den Grund zu gehen. Eine klassische Midlifecrisis könnte man ihm konstatieren, doch es steckt mehr dahinter: In Ruth Cerhas Roman „Traumrakete“ verschwimmen die Grenzen zwischen dem Bewussten und Unbewussten.

„Es waren die Augen seiner Kinder, die ihn damals im Dunkel des Zimmers festhielten und ihm klarmachten, dass nicht einmal Suizid eine Möglichkeit war. Die Erkenntnis jedoch brachte keine Erleichterung, sondern die extremste Empfindung von Unfreiheit, die er je in seinem Leben erfahren hatte.“

Es gibt verschiedene Arten von Krieg. In Ruth Cerhas Roman „Traumrakete“ kommen gleich mehrere davon vor: der Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg, der aktuelle Krieg in Syrien, der kalte Krieg innerhalb einer Ehe und der Krieg eines einsamen Mannes mit sich selbst. Dave ist in einer Sackgasse seines Lebens angekommen, ohne zu wissen, wie er sich in diese ausweglose Situation manövriert hat. Er und seine Frau Janet hörten irgendwann auf, miteinander zu reden, der ältere Sohn schafft das Abi nicht, die Teenager-Tochter hat noch nie viel mit ihm geteilt und den Job als Musiklehrer übt er resigniert und ohne Leidenschaft aus. Sein einziger Lichtblick ist Nachzüglersohn Nobbs. Als Daves patriarchaler Vater erkrankt und Daves Träume immer mehr Raum einnehmen, wird ihm mithilfe seines Psychiaters klar: Er muss der Vergangenheit seiner Familie auf den Grund gehen, um selbst wieder mit seinem Leben zurechtzukommen. Was wiegen vererbte Traumata?

Ruth Cerha überschreitet in ihrem fünften Buch die Grenzen zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten. Die Sicht auf die Welt wird, obgleich Dave in dem Sinne kein unzuverlässiger Erzähler ist, klar durch die stark subjektive Wahrnehmung des Protagonisten geprägt, sowohl in Hinblick auf Zeit als auch auf die Räume, in denen er sich bewegt. Einerseits sind genaue Daten angegeben, andererseits bekommt der Leser vom gesellschaftlichen und weltpolitischen Leben nur dann etwas mit, wenn sich Dave mit fernsehen betäubt oder die Realität durch seinen syrischen Nachbarn in eine kleine Ritze seines Bewusstseins kriecht. Es ist diese merkwürdige Diskrepanz zwischen dem Konkreten und dem Unkonkreten, die Daves Innenwelt widerspiegelt.

Wien, die Stadt in der er lebt, ist zunächst so nichtssagend, dass es sich genauso gut um Bochum handeln könnte. Immer stärker drängen Erinnerungen an seine Kindheit in New York an die Oberfläche und legen sich palimpsestartig über die Gegenwart, und seine Träume, die er nach und nach zu kontrollieren erlernt, verleihen der Realität eine weitere Ebene. Als Dave schließlich erkennt, dass er in seine Heimatstadt zurückreisen muss, entpuppt sich New York als Dreh- und Angelpunkt seines Lebens und somit des Romans (obgleich nur ein Drittel der Handlung dort spielt). New York ist lebendig, voller Farben, Gerüche und Geräusche, es werden konkrete Orte, Adressen und Ziele genannt. Und Dave erwacht aus einer Erstarrung: Nach seiner Rückkehr ist auch Wien viel plastischer, was ihm selbst auffällt: „Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das Gefühl, wirklich zu sehen, was rund um ihn herum vorging, nicht als Beobachter, sondern als Teil des Geschehens.“

Die Wahrnehmung, die Dave von sich selbst hat, weicht ebenfalls stark von der anderer Personen ab. Bis zur Hälfte des Romans wirkt Janet wie eine verbitterte Ehefrau, die sich mehr für den Job als für ihre Familie interessiert. Es ist ein kleiner Satz, der alles ändert: „Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, einen depressiven Menschen zu lieben?“

Ruth Cerha nimmt die Leser mit auf eine Reise, in der Realität, Wahrnehmung, Träume und Erinnerungen verschwimmen. Manchmal ist loslassen angenehmer, das weiß Dave („Wenn ich die Kontrolle verliere, kann ich nicht mehr entscheiden, was passiert.“), das weiß sein kleiner Sohn Nobbs, der die Schwingungen zu Hause spürt und sich in seine Traumwelten flüchtet, das weiß Janet, die sich in ihrer Arbeit verliert und der ältere Sohn, der Computerspiele und Kiffen dem echten Leben vorzieht. „Traumrakete“ zeigt, was wir eigentlich wissen, und doch allzu gerne verdrängen: Wir müssen uns unseren Dämonen stellen, um sie loszuwerden.

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Ruth Cerha – Traumrakete
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt
März 2018, 478 Seiten

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