Wie zuverlässig sind Erinnerungen? Und wie nah kann man einer anderen Person überhaupt sein, auch wenn es sich dabei um den besten Freund handelt? In Hannes Köhlers Debütroman „In Spuren“ begibt sich der Ich-Erzähler auf die Suche nach seinem verschwundenen Freund – und lernt sich selbst dadurch neu kennen.
Hannes Köhler fackelt nicht lange: Auf Seite eins kündigt Felix an, er ginge Kippen holen (ja, der Klassiker!) und bereits auf Seite zwei merken seine drei Freunde, dass er verschwunden ist. Mit dieser Abwesenheit, der Lücke in seinem Leben, muss sich in Köhlers Debüt „In Spuren“ Ich-Erzähler Jakob auseinandersetzen. Sollte er, der Felix von Kindesbeinen an kennt, nicht wissen, warum er gegangen ist? Denn „ein bester Freund wüsste, wohin er verschwunden ist. Für einen besten Freund wäre das Warum keine Leerstelle“.
Um diese Leerstelle zu füllen, begibt sich Jakob auf Spurensuche in seine Wohnung. Anhaltspunkte liefert dort vor allem das Tagebuch, das Felix zurückgelassen hat. Jakob wird schnell bewusst, dass sein vermeintlich bester Freund eine ganz andere, ihm unbekannte Seite hat. „Etwas hatte sich verschoben“, schreibt Felix, der die Veränderungen seines Seelenlebens genau dokumentiert. Und Jakob stellt sich die Frage, ob Felix seine düstere Welt vor ihm verborgen hielt, oder ob er, Jakob, diese einfach nicht sehen wollte.
Willkürlich statt chronologisch liest Jakob die Tagebucheinträge, die langsam ein Mosaik ergeben, lässt sich von längst vergessen geglaubten Erinnerungen fluten und von Felix‘ Geschichte absorbieren. Er zieht in die Wohnung ein und nimmt nach und nach die Identität seines verschwundenen Freundes an („als ob ich meine Konsistenz verlöre“), während Gegenwart und Realität weiter zurückgedrängt werden. Und doch: Jakob erlebt durch die Auflösung seines Ichs eine Selbstfindung. Das belastet nicht zuletzt seine Beziehung. „Diese Wohnung, das Tagebuch, alles ist Felix gerade, alles immerzu Felix“, schreit ihn seine Freundin an.
Die zweite Faszinationsebene für Jakob ist aber nicht nur Felix‘ geheimes Leben, sondern die Einsicht, wie er selbst auf andere wirkt. Durch das Tagebuch sieht er erstmals ungefiltert aus einer fremden Perspektive, wie er wahrgenommen wird, und kennt und erkennt sich darin nicht immer wieder. Ab welchem Zeitpunkt hatten sich die Freunde auseinandergelebt, sich elementare Gedanken und Gefühle verschwiegen? Als „Kneipenphilosophen“ bezeichnet Felix‘ Ex-Freundin Manja die Viererclique abfällig und hat damit nicht unrecht – die Freundschaft der vier Jungs zeigte bereits seit längerem Auflösungserscheinungen, wie Jakob klar wird.
„In Spuren“ ist ein Roman, der eindringlich beginnt, dessen Intensität allerdings ein wenig abflaut, als sich Felix (obgleich kryptisch) meldet – Jakob und die Leser komplett im Unsicheren über dessen Verbleib zu lassen, hätte der Handlung keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Die klaren Stärken des Romans sind die vielen Zweifel, die er aufwirft: Was definiert einen Menschen? Wie zuverlässig sind Erinnerungen? Wie schnell richtet man sich in seiner grauen Routine ein? Wie sehr unterscheiden sich die eigene Wahrnehmung von der anderer? Das wichtigste Motiv in Hannes Köhlers Debüt ist die Freundschaft und der Verlust dieser, der Verlust von allem, was sicher galt, und damit die Frage: Wie gut kenne ich meine Freunde wirklich? Nicht selten ist schließlich das, was nicht gesagt wird, das Entscheidende. Aber: Wie gut möchte ich meine Freunde überhaupt kennen?
Zum Weiterlesen: Delphine de Vigan – Nach einer wahren Geschichte
Hannes Köhler – In Spuren
mairisch, Hamburg
April 2011, 227 Seiten
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Hallo,
das Buch klingt sehr interessant, aber wirklich nach einem Roman, dem es nicht schlecht getan hätte, alles offen zu lassen. Früher möchte ich offene Enden nicht, aber ich lerne sie immer mehr zu schätzen, sofern die Geschichte nicht darunter leidet.
LG,
Mikka
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