Susan Jane Gilman – Die Königin der Orchard Street

Susan Jane Gilman verknüpft in ihrem Debüt „Die Königin der Orchard Street“ gekonnt die US-amerikanische Geschichte mit der persönlichen Geschichte ihrer Protagonistin, die aufgewachsen als Kind jüdischer Einwanderer im Slum der Lower East Side zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der USA wird.

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Anfang der 1980er Jahre schlägt sich Lillian Dunkle mit mehreren Klagen und Anklagen herum: Sie wird der Steuerhinterziehung beschuldigt und hat zudem vor laufenden Kameras ein kleines Mädchen ins Gesicht geschlagen. Außerdem möchte sie verhindern, dass ihr ehemaliger Mitarbeiter Harvey Ballentine weiterhin in der Öffentlichkeit erzählt, dass er für ihr Unternehmen gearbeitet hat. Harvey ist schwul und Lillian die Königin über ein Eiscremeimperium. Seit kurzem grassiert eine tödliche Krankheit, die als „Schwulenkrankheit“ gebrandmarkt wird und die Lillian nicht mit ihrem Eis assoziiert haben will. Lillian Dunkle ist eine alte Dame mit einer beachtlichen Kollektion an Chanel-Kostümen, eine Kleptomanin mit Tendenz zum Alkoholismus, die ihre Bediensteten nach Belieben herumkommandiert und die außer ihrem Enkel keine nahen Personen mehr in ihrem Leben hat. Kurz: Wirklich sympathisch geht anders. Dass den Leser diese Figur dennoch berührt, ist der selbstironischen Art Lillians zu verdanken, die mit trockenen Sprüchen à la „wie ich einen Abstinenzler großziehen konnte, ist mir heute noch ein Rätsel“, ihr Leben kommentiert.

In langen Rückblenden folgt der Leser Lillian Dunkle auf ihrem Lebensweg. Noch mit ihrem ursprünglichen Namen Malka flieht sie Anfang des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit ihrer Familie in die USA. Zu gern wird heute in New York der guten, alten Zeiten erinnert, als der Kapitalismus die Stadt noch nicht in seinen Griffeln hatte. Susan Jane Gilman zeichnet in ihrem Debütroman aber ein anderes Bild, eins vom Elend in Migrantenslums, von hungernden Menschen, Krankheit und Armut. Vor allem Klein-Malka und ihr Vater sind entsetzt, dass die Straßen New Yorks nicht wie erwartet mit Gold gepflastert sind. Sie leben im jüdischen Viertel der Lower East Side, in der sich ganze Familien ein einziges Zimmer teilen müssen und die Menschen bei grassierenden Seuchen sterben wie die Fliegen. Wie ihre älteren Schwestern muss auch die fünfjährige Malka arbeiten, um nicht zu verhungern. Es dauert nicht lang, bis der Vater aufgibt und verschwindet. „Auf der Lower East Side zerbrachen Familien wie Flaschen. Ständig hauten die Männer ab.“ Die Lower East Side Malkas ist nicht pittoresk oder „authentisch“, sondern der Vorort zur Hölle.

Doch auch Malka bleibt nicht lange bei ihrer Familie: Sie wird von einem Eisverkäufer angefahren und hinkt von nun an ihr Leben lang. Widerwillig nimmt die Familie des Eisverkäufers sie zwecks Wiedergutmachung auf. Nur wenige Straßen vom jüdischen Viertel entfernt liegt Little Italy, nicht minder heruntergekommen, mit den christlich-italienischen Bewohnern aber ein kleiner Kulturschock Malka. Sie lernt schnell und stellt sich die Weichen für ihr zukünftiges Leben. Malka, inzwischen Lillian, erkennt die Bedeutung der Eiscreme: „Vor nicht allzu langer Zeit, bevor die Kältetechnik entwickelt wurde, war Eis kostbarer als Gold.“ Eingeweiht in die Geheimnisse der Eisproduktion gründet sie als junge Frau nach einem schweren Betrug ihrer Adoptivbrüder ihr eigenes Unternehmen und wird nach jahrzehntelanger harter Arbeit zur Ice Cream Queen der USA.

Lillian Dunkle verkörpert (als Einwanderin, wohlgemerkt) den klassischen American Dream und doch ist ihre Karriere frei von Klischees erzählt. Besonders geschickt gelingt es Susan Jane Gilman, die US-amerikanische und die Weltgeschichte mit der persönlichen, fiktiven Lillians zu verbinden. Dank hervorragender Recherche und der schlüssigen Verknüpfung von Fakt und Fiktion erweckt Gilman die Illusion, bei Lillian Dunkle könne es sich um eine reale Figur handeln. Als junge Frau erlebt Lillian die Große Depression und schließlich den Zweiten Weltkrieg, bei dem sie und ihr Mann amerikanische Soldaten mit Eis versorgen. Es folgen eine von Armut geprägte Nachkriegszeit und Begegnungen mit Ray Kroc, dem Begründer des McDonald’s-Franchise, später die Discozeit und die Panik vor HIV – Gilman lässt keine der relevanten Stationen des 20. Jahrhunderts aus. Neben der gekonnten Verflechtung von Lillian Dunkles mit der kollektiven Geschichte besteht die weitere beispiellose Kunstfertigkeit Gilmans in der Entwicklung der Figur Lillian. Sie ist die klassische Antiheldin, die für ihre Ziele über Leichen geht. Und doch wird der Leser immer Sympathien für sie haben, und doch bleiben ihre Beweggründe immer nachvollziehbar.

Die Übersetzung des Romans von Eike Schönfeld ist tadellos, allein im letzten Drittel „bellen“ die Figuren etwas zu oft und auch Lillian Dunkles Markenzeichen, der Spruch „Verklagt mich doch“, der im Roman häufig auftaucht, klingt im Deutschen sehr viel holpriger als die englische Variante „so sue me“. Die jiddischen Begriffe strengen mit der Zeit etwas an (der Insel-Verlag hat zum Glück ein Lesezeichen beigelegt, das einige Übersetzungen anführt) und wirken nicht immer glaubwürdig, da Lillian den Großteil ihrer Kindheit und Jugend in einer italienischen Familie aufwuchs. Von diesen Details abgesehen ist „Die Königin der Orchard Street“ ein virtuos komponierter Roman, der mit seiner plausiblen Charakterzeichnung und der Verquickung von Dichtung und Wahrheit überzeugt.

Susan Jane Gilman – Die Königin der Orchard Street
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Insel Verlag, Berlin
März 2015, 553 Seiten

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