Sonja Harter – Weißblende

Die Kulisse: Ein österreichisches Bergdorf, das idyllischer kaum sein könnte – doch es dauert nicht lange, bis in Sonja Harters Debütroman „Weißblende“ die Risse sichtbar werden. Denn hinter diesem Idyll lauern Abgründe, die es schwer machen (sollten), den Schein der Normalität zu wahren.

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„Alles Fremde ist gefährlich, hier, in diesem Spalt zwischen den Bergen, der einst, ich kann nicht nachvollziehen, warum, besiedelt wurde. Der ewige Schatten macht die Gemüter trübe, für einen Missbrauch braucht man sich hier nicht erst im Netz zu verfangen.“

Abgeschieden leben sie, die Bewohner dieses kleinen österreichischen Dorfs, das vor lauter Bergen den Blick zum Horizont nicht erlaubt. Fremde verirren sich fast nie hierher, wozu auch, es gibt ja keine Jobs und keine Perspektiven. Wer kann, der flieht. Das ist die Heimat der 14jährigen Matilda, die gemeinsam mit ihrem schweigsamen Vater in einer Berghütte lebt. Die Mutter sei bei ihrer Geburt gestorben und die Großmutter dement, wird ihr gesagt. Das Verhältnis zu ihrem Vater scheint zunächst genauso ruhig-idyllisch wie die Umgebung: „Auch wenn wir kein Wort verlieren, weil wir uns selten etwas zu sagen haben, sitzen wir einander gegenüber da und haben das Gefühl, eine besonders harmonische Familie zu sein.“ Es dauert jedoch nicht lang, bis Matilda diese Stille als „klammes Schweigen“ bezeichnet. Und schließlich findet sie heraus, dass hinter diesem Schweigen Familiengeheimnisse, die der Vater vor ihr verbirgt, stecken.

Auch die Dorfgemeinschaft ist gut darin, Dinge unter den Teppich zu kehren. Die Bedrohung durch Männer, die junge Mädchen in ihre Autos locken, ist allgegenwärtig, es wird regelmäßig in der Schule davor gewarnt. „Hast von all den Männern in der Zeitung gelesen, von den Kellern, der Luftzufuhr, dem Schimmel, den elektronisch gesicherten Eingangstüren, den Nachbarn, die immer freundlich gegrüßt wurden und es nicht glauben können, von den Polizisten, die jahrelang nicht das Geringste wissen und ganz zum Schluss schon ganz nah dran waren.“ Auch Matilda wird von einem Mann im Mercedes angesprochen, der natürlich nie gefasst wird. Diese Bedrohung gehört zum Alltag, so sehr zum Alltag, dass sie irgendwann nur noch mit einem Schulterzucken quittiert wird: „Die verschwundenen Kinder sind in den Zeitungen mittlerweile nur mehr Randnotizen. Gefunden haben sie schon lange niemanden mehr.“ Resignation.

Matilda nun lebt gefangen in ihrer kleinen Welt, in der sich nie etwas ändert. Als der Vater gezwungen ist, ein Zimmer des Hauses zu vermieten, tritt Alain in ihr Leben. Der ältere Mann wird bald zu ihrem Liebhaber und Vaterersatz zugleich. Er ist ihr Befreier und führt sie raus aus dem Dorf, erst in die Stadt und dann in die ganze Welt – mit seinem Auto, genau wie die Männer, die hier Mädchen verschleppen. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis aus ihrem Befreier ihr Untergang wird. Matilda wird von Alain schamlos ausgenutzt und verliert sich schließlich selbst, immer in dem Glauben, selbstbestimmt zu handeln.

„Weißblende“ ist ein beeindruckendes Debüt, das durch die klaustrophobische Atmosphäre des Dorfs mit seiner Enge, dem immerwährenden Schweigen und den verschwundenen Mädchen den Leser in eine beklemmende Welt führt. Allein im letzten Teil verliert der Roman die Subtilität, die ihn vorher ausgezeichnet hat und wirkt durch die expliziten Schrecken in Matildas Leben plumper. Von dieser Schwäche abgesehen ist „Weißblende“ ein bedrückender Roman, der von emotional wie körperlich missbrauchten Mädchen erzählt, über deren Schicksal die Gesellschaft lieber den Mantel des Schweigens breitet.

Sonja Harter – Weißblende
Luftschacht, Wien
September 2016, 204 Seiten

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