Antanas Škėma – Das weiße Leintuch

In wenigen Stunden ein Leben erzählen: In Antanas Škėmas „Das weiße Leintuch“ erlebt sein Alter Ego einen Arbeitstag als Liftboy in einem New Yorker Hotel. Während des eintönigen Ups und downs erinnert er sich an sein Leben in Litauen und die Flucht ins Exil.

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„Doch es fällt mir schwer, zum Schräubchen einer Maschine zu werden… Und es fällt mir schwer, weil ich noch schreiben möchte.“

Es ist die Sternstunde des noch jungen Guggolz Verlags: Der 2014 von Sebastian Guggolz gegründete Berliner Verlag hat sich auf Neu- und Wiederentdeckungen essentieller Romane aus Minderheitensprachen spezialisiert, vor allem aus dem nord- und osteuropäischem Raum. Anlässlich der Leipziger Buchmesse, bei der dieses Jahr Litauen das Gastland war, veröffentlichte der Verlag das wichtigste litauische Werk des 20. Jahrhundert: „Das weiße Leintuch“ von Antanas Škėma, 1958 auf Litauisch und jetzt erstmals auf Deutsch erschienen, erstklassig übersetzt von Claudia Sinnig. Ein Glückstreffer für Guggolz, denn es regnete hymnische Besprechungen von der FAZ, Süddeutschen und der Welt.

Škėmas Held in dem Roman heißt Antanas Garšva. Der Roman ist abwechselnd aus erster und dritter Person erzählt, dreht sich aber gänzlich um Garšva. In den Passagen, die nicht aus der Ich-Perspektive geschildert sind, nennt der Autor seinen Protagonisten beim Nachnamen. Diese Distanz jedoch ist nur vorgetäuscht, die Namensverwandtschaft deutet es schon an: Es gibt deutliche biographische Überschneidungen von Škėma und Garšva, was die kurze Vita im Anhang beweist. Wie seine Figur floh auch der Schriftsteller vor den Sowjets nach New York und arbeitete dort als Liftboy. Die Vergangenheit wird nicht verklärt, allerdings lässt sie Autor wie Protagonisten in keiner wachen Sekunde los. Das Erstaunliche dabei: Der Zweite Weltkrieg bleibt größtenteils eine Leerstelle in dem Roman.

Die Entwurzelung des Exilanten gehört zu den zentralen Themen in „Das weiße Handtuch“, genau wie die Frage, ob man als Dichter seine Haut retten darf, indem man sich dem Regime hörig zeigt, oder Wahrheit und Poesie treu bleiben sollte. Antanas Garšva jedenfalls muss für sein subversives Verhalten zahlen: Er wird gefoltert und fristet jetzt sein Dasein in den USA. Aber wie hätte er anders reagieren können? Bereits mit vierzehn plante er, sich zu erhängen – inspiriert durch die Literatur, namentlich die Lektüre Schopenhauers. Leiden, das ist es, was den Poeten Garšva antreibt: „Ich möchte keine Ruhe. Ich möchte Qual“, sagt er. Doch als Liftboy besteht die Qual höchstens in der Monotonie des Alltags. Allein die Liebe zu Elena, ebenfalls litauische Exilantin, reißt ihn aus der Lethargie, lässt ihn die Qual der Poeten fühlen. Was genau an Elena so faszinierend ist, bleibt durch die streng subjektive Sichtweise des Protagonisten offen. Zwar kreisen Garšvas Gedanken immer wieder um sie, Interaktionen der beiden Figuren gibt es aber nur wenige.

Dem Roman zu folgen ist nicht einfach. Das ist zum einen der häufig erwähnten litauischen Geschichte und Kultur geschuldet, die den wenigsten Lesern vertraut sein wird und die zum Glück am Ende des Buches im Glossar erläutert ist. Zum anderen aber liegt es auch an dem stark assoziativen Stil Škėmas, der nicht davor zurückschreckt, von einem Thema zum nächsten zu springen, verschiedene Bilder, Orte und Zeitebenen miteinander zu verbinden und teilweise surreale Momente einfließen zu lassen. Die zahllosen Anspielungen auf Geschichte, Politik, Religion, Literatur, diverse Mythologien und Philosophie bedürfen enormer Aufmerksamkeit und Vorwissen, um dem Stream-of-consciousness in all seiner Tiefe und seinen Facetten folgen zu können. Das Buch will intensiv und sorgfältig gelesen werden. Wer dem gewappnet ist, der hat ein großes Stück (litauische) Literatur vor sich. Doch es sei keinem zu verdenken, dem das zu viel wird.

Zum Weiterlesen: Eugenijus Ališanka – Risse

Antanas Škėma – Das weiße Leintuch
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig
Guggolz, Berlin
Februar 2017, 255 Seiten

Auch besprochen bei

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3 Gedanken zu “Antanas Škėma – Das weiße Leintuch

  1. Danke fürs Verlinken. Ich finde auch, dass der Guggolz-Verlag mit Škėma einen wahren Schatz gehoben hat und bin gespannt, was man dort in den nächsten Jahren noch so „ausgräbt“. Viele Grüße.

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