Hanya Yanagihara – Ein wenig Leben (Literaturhaus Frankfurt)

Es ist für Hanya Yanagihara die letzte Station auf ihrer Lesereise – zumindest in Deutschland, denn schon am nächsten Tag geht es für sie weiter nach Finnland. Trotzdem zeigt sich die Autorin, deren Vorname übrigens auf der zweiten Silbe betont wird, vor dem ausverkauften Literaturhaus Frankfurt erstaunlich gut aufgelegt. Mit Moderator Alf Mentzer spricht sie zunächst über das auffällige Cover ihres Romans „Ein wenig Leben“. Sie und ihr Lektor „were trying to decide how to package this book”, bis sie sich endlich auf das zweideutige Foto „Orgasmic Man“ von Peter Hujar einigen konnten. Doch nicht nur das Cover bereitete Schwierigkeiten. „My publishers didn’t know what to do with my novel“, verrät sie. „Ein wenig Leben“ sollte eigentlich als Coming-of-Age-Roman vermarktet werden. Da gefällt Yanagihara der Gedanke ihres Lektors besser: Der Roman sei wie „‚Friends‘ written by Proust.“

Wieviel, möchte Mentzer wissen, könne den Lesern überhaupt zugemutet werden? Yanagihara gibt zu, dass ihr Lektor meinte, der Roman sei „too violent“, wobei auch er nicht wusste, wie genau man ihn kürzen solle. „Wir erleben heutzutage sehr viel Gewalt“, so die Autorin, „it’s so easy to turn away.“ Literatur solle ein Vehikel sein, um in diese gewalttätige Welt einzutauchen und eben nicht so leicht davonzukommen. „I’m sure though readers turned away because it was too much“, sagt sie. Yanagihara siedelt ihren Roman in zwei gegensätzlichen Genres an: Die Dunkelheit und Gewalt, der Exzess und die Zeitlosigkeit ähneln einem Märchen, während die genauen Beschreibungen einem naturalistischen Gegenwartsroman gleich sind. Nebenbei bemerkt: Yanagihara benutzt als Personalpronomen für „the reader“ konsequent „she“.

Die vier Protagonisten, Jude, JB, Malcolm und Willem, seien bereits „wholly formed“ zu ihr gekommen, erzählt die Autorin, „I can’t name the traces“. Yanagiharas Antrieb war vor allem, eine Figur zu schaffen, die nicht fähig ist, ihr Leben zu verbessern – und, über Männerfreundschaften zu schreiben: „Ich wollte die Art und Weise, wie Männer kommunizieren, wenn sie ihre Gefühle nicht ausdrücken können, untersuchen.“ Hätte sie eine Freundschaft unter Frauen beschrieben, so Yanagiharas These, dann hätte der Roman lediglich einen Drittel der Länge umfasst. „Wenn Männer über ihre Scham, Verletzlichkeit oder Ängste reden, wird ihre Männlichkeit von der Gesellschaft infrage gestellt. Frauen haben es da leichter.“ Ursprünglich hatte sie sogar gänzlich auf Frauenfiguren verzichten wollen. Sie kam schließlich von der Idee ab, weil ihr dies doch zu künstlich erschien.

Alf Mentzer beweist sich einmal mehr als fabelhafter Moderator. Auch wenn in „Ein wenig Leben“ keine Daten oder Ereignisse, anhand derer man die Zeit bestimmen könnte, erwähnt werden, so finde man im Roman doch Hinweise auf die jeweiligen Jahrzehnte. Hanya Yanagihara bestätigt dies: „There are ways to carbonize the novel“. Zum Beispiel sei eine gewisse Art zu reden, die Ironie, typisch für die 1990er gewesen. In einer anderen Szene werden ausgestellte Fotografien erwähnt; es sei charakteristisch für Anfang der Nullerjahre, dass Leute mit Geld, aber noch wenig Ahnung, sich ausgerechnet Bilder dieser Fotografen zulegten. „Das bedeutet aber nicht, dass der Roman explizit chronologisch ist“, betont die Autorin. „Die Zeit darin ist kein kontinuierlicher Ablauf, vielmehr expandiert sie und zieht sich wieder zusammen, ähnlich wie eine Lavalampe.“

Während für Yanagihara Romane wie „Fegefeuer der Eitelkeiten“ oder „Washington Square“ typische New-York-Romane sind, spielt sich bei ihr die Handlung eher im Inneren, in Wohnungen, Galerien und Büros, ab. „Es gibt das Gefühl zeitlicher und örtlicher Entwurzelung.“ Sie habe sich mehr für ein „psychological portrait of New York“ interessiert: Warum ziehen Leute in die Stadt und warum bleiben sie? Für sie ist New York durch den ewigen Kampf nach Erfolg und durch die Konkurrenz, die dadurch entsteht, definiert. „Das gibt der Stadt ihre Energie“, zugleich sei dies aber auch eine „lonely, brutal experience“. Sie sieht ihren Roman eher in einer Reihe mit „American Psycho“, einem weiteren New-York-„Märchen“, das sich durch die „same destructive velocity“ auszeichne.

Mentzer kommt näher auf Jude zu sprechen: „Ist der Roman ein Sozialexperiment, in dem Sie Jude systematisch alles wegnehmen? Hatten Sie nie Zweifel?“ Sie habe keine Freude daraus gezogen, Jude all dies anzutun, antwortet die Autorin. „Aber wenn Leute sowas wie Jude erlebt haben, entwickelt sich daraus eine unheilvolle Dynamik, da sie in ihrer Kindheit nichts anderes gelernt haben. Sie gehen immer wieder zu den Menschen, die ihnen wehtun, zurück.“ Jude könne nicht akzeptieren, dass er einfach nur Pech im Leben hatte. Deswegen entwickele er sich nicht weiter und verwende immer wieder alte Muster. Auch die Selbstverletzung gehöre dazu: „Es gibt ihm das Gefühl, die Kontrolle über seinen Körper zu haben. It’s an announcement of autonomy, even if it means its destruction.“ Das Ritzen sei zudem seine Art, mit seiner gespaltenen Persönlichkeit, der Diskrepanz zwischen seiner öffentlichen Rolle als Anwalt und seiner privaten, gebrochenen, umzugehen. Zum Schluss verrät Hanya Yanagihara, dass ausgerechnet JB ihre Lieblingsfigur ist. „Er ist witzig und ironisch, er bekommt die besten Sprüche und ist derjenige, der sich am meisten verändert. He has to work the hardest at being good.“

Literaturhaus Frankfurt
22. März 2017
Hanya Yanagihara – Ein wenig Leben
Moderation: Alf Mentzer
Mit: Max Mayer


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