Was ich las: Patricia Hempels Inspiration

© Annette Hauschild

„Weil ich mich nicht für die Poesie entschieden habe, archiviere ich frühgeschichtliche Knochenreste in Müllbeuteln.“ Mit diesem starken Satz beginnt der Debütroman „Metrofolklore“ von Patricia Hempel, der vor wenigen Wochen bei Tropen erschien. In „Metrofolklore“ schlägt sie den Bogen von Ovid zum Minnesang bis hin zum YouPorn schauen im heutigen Berlin. Das lässt erahnen, dass Patricia Hempels Literaturgeschmack außergewöhnlich ist. Ein guter Grund, um nachzuhaken, wer ihre literarischen Vorbilder sind.

Mein Lieblingsbuch, bevor ich zwanzig wurde

Robert Schneider – Schlafes Bruder

Tatsächlich habe ich früher mehr gelesen als heute und ich muss gestehen, dass die royale Tristesse der 90er-Welle von Kracht bis Hennig von Lange, von Roche bis Stuckrad-Barre, ziemlich an mir vorbeigeschwappt ist. Das liegt mit Sicherheit an meinen Faible-Schwerpunkten von damals: Ich fand es mit 17 total cool, mir das Klavierspielen beizubringen und Chopin zu klimpern, analoge Fotografien von Berliner Stuckfassaden zu machen und mit einem Schraubenzieher durch die Stadt zu schlendern und jedes Schild, das irgendwie alt aussah, abzuschrauben und in mein Zimmer zu hängen. Zusammen mit meiner damals besten Freundin zelebrierte ich etwas, das wir ernsthaft als „Nostalgie“ betitelten – irgendwie den Geist der Vergangenheit einsaugen und kitschige Gedichte auf der Straße an Touristen verkaufen, Bachs Brandenburgische Konzerte aus dem Ghettoblaster vor einem Haus in der Nähe des Bode-Museums hören, weil irgendwelche Einschusslöcher in dessen Fassade zu finden waren, in die wir unsere Finger stecken konnten. Ich trug biedere Kleider und mein Haar wie Holly Hunter in Jane Campions „Das Piano“ (natürlich spielte ich auch den Soundtrack auf dem Klavier) … ziemlich gothic eben, aber ohne Gitarren. Wie die beiden durchgeknallten Mädel in „Heavenly Creatures“, ein total absurdes Cosplay, in dem Literatur total Nebensache war.

Also fast – wir hingen viel im Tacheles rum, wo die ganzen Lyriker, die man heute noch kennt auftraten: Kuhligk, Hübsch (inzwischen leider verstorben), HEL Toussaint, Hendrik Jackson, Tom de Toys usw. Die las ich, aber sie konnten Rimbaud, Lasker-Schüler oder Kaléko nicht toppen. Eigentlich habe ich mich durch die ganzen Russen gekämpft, je komplizierter, desto besser. Ich glaube, mein Highlight waren Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ und „Weiße Nächte“, sowie, aus ganz persönlichen Gründen, Tolstois „Anna Karenina“. Letzteres habe ich arg zelebriert, aber meine „Bibel“ war trotzdem Schneiders „Schlafes Bruder“. Ich habe das zum ersten Mal in der Grundschule gelesen und war ziemlich traumatisiert, fasziniert von der Sprache und dem Liebeskonzept dahinter. Das Düstere stieß mich ab und hielt mich gleichzeitig noch Jahre später gefangen. Der Gedanke, sich das Leben zu nehmen, indem man nicht mehr schläft, weil es die eigene Liebe überführen würde, fand ich heillos romantisch und in seiner Überzogenheit zu echt, um wahr zu sein. Ein totales Anti-Märchen mit Musicalcharakter, in dem finster georgelt wird, anstatt in Petticoats pomadisierte Biker anzusingen. Das Buch deprimierte und euphorisierte mich, weil es so weit weg von den eigentlichen Dingen war. Außerdem unterstützte es meine Weltflucht via Flechtfrisur. Irgendwie ist es im Nachhinein nicht verwunderlich, dass ich mich für einen Pseudo-Liebesroman als Erstling entschieden habe (oder es mir vielleicht nicht aussuchen konnte).

Mein Lieblingsbuch heute 

Keins

So hart das klingt. Ich lese so wenig, dass es fast weh tut. Ich stoße immer mal wieder über etwas Wunderbares, das mich eine Weile trägt, aber dann verliert es sich wieder. Ich lese in Dinge rein und denke: YES! Genauso muss es gesagt und aufgeschrieben werden, aber merke zugleich, ich werde der Lektüre nicht gerecht. Bestimmte Bücher haben volle Aufmerksamkeit verdient und dann lasse ich es lieber, bevor ich es als Snack für zwischendurch verkommen lasse. Es gibt so viele starke, auch zeitgenössische Romane, da verliert man locker den Überblick – und ich rennen keinen Hypes hinterher und lese etwas, weil alle es lesen und man es deshalb gelesen haben muss. Übel finde ich auch diese ganzen verkopften Kritiken. Das ist immer so überakademisch verklausuliert und masturbatorisch, das turnt mich jedes Mal total ab, ein Buch dann selbst zu lesen.

Ich kann also hier und jetzt nur von einer zufälligen Momentaufnahme sprechen. Aktuell liegen drei Bücher auf meinem Nachttisch: Anne Carsons „Autobiography of Red“ (ziemlich toll!), „So sehe ick die Sache – Protokolle aus der DDR“ (ein KiWi-Buch aus den 80ern von Gabriele Eckart aus Recherchegründen) und ein Gedichtband von Anna Achmatowa (bisher steht nur meine Kaffeetasse auf dem Einband, aber ich weiß, was mich erwartet). Nicht zu vergessen die Wochenendausgabe der taz (zum Lesen und um einen Wachsfleck aus meiner Lieblingshose zu bügeln). Auf jeden Fall will ich Jörg-Uwe Albigs neuen Roman in diesem Jahr noch lesen und Erich Honeckers Gefängnisbriefe.

Was mich inspiriert

Fast alles

Die Ideen kommen meisten im Schlaf: Komischerweise habe ich erst von „Metrofolklore“ geträumt (sogar vom Titel) und danach angefangen, den Roman zu schreiben. Bei meinem neuen Projekt war das genauso. Mein Unterbewusstsein spielt mir die Themen quasi zu. Ich will nichts kopieren, deshalb lese ich in akuten Schreibphasen auch nicht, sondern gehe an Orte, die den Schreibprozess füttern. Das ist wie bei einem Tamagotchi, das sich mehrfach meldet, bevor es eingeht. In den letzten zwei Wochen führte mich mein Weg daher regelmäßig ins Stasi-Museum und ins Havelland. Und in die Küche eines älteren Herren, dem ich auf dem Rückweg von einer Lesung im IC begegnet bin und der nicht müde wird, von seinem Leben zu erzählen (beim letzten Besuch ging es um den 20. Jahrestag Israels, den er in Tel Aviv verbrachte und dabei allerlei Obskures erlebte).

Von diesem Buch ist auch der Film sehenswert

Oh da fallen mir Dutzende ein: Vilsmaiers „Schlafes Bruder“ muss ich ja jetzt korrekterweise anführen – tatsächlich hat der Film all meinen Albtraumfantasien ein Gesicht gegeben und hatte mich damals im Kino sehr beeindruckt. Ansonsten gefiel mir „Into the Wild“ von Jon Krakauer aus ganz eigenen Sehnsuchtsmotiven heraus – ich las das Buch mit 22 auf meinem Sechs-Monate-Hobo-Trip durch Island und war danach total besessen von Alaska. Ich glaube, Alexander Supertramp war auch Anfang 20, als er so elendig in seinem Magic Bus verreckte (vielleicht auch aus romantischem Leichtsinn heraus). Das Buch erörterte die Story journalistisch und befeuerte mir im Vorfeld den Film, der aber ziemlich eigenständig daherkommt.

Ansonsten: „The Beach“ (Garland/Boyle), „Der Vorleser“ (Schlink/Daldry), „Naked Lunch“ (Burroughs/Cronenberg) und ich liebe „Stand by me“ von Rob Reiner nach einer Kurzgeschichte von Stephen King, aber auch die „Dolores“-Verfilmung (Das klingt hart am Mainstream-Limit – aber nicht jeder Mainstream ist automatisch kacke). Manchmal greife ich erst zum Buch, wenn ich den Film gesehen habe, und bin danach enttäuscht, was Filme auslassen (müssen)!

Welches Buch wird überbewertet

Schwer zu sagen

Ich erlaube mir kein Urteil, weil ich dafür zu wenig lese und zu viel auslasse. Ich finde aber eher das Gegenteil ist der Fall: Die meisten Bücher sind unterbewertet oder werden schlecht bis gar nicht besprochen. Ganz hart trifft es die Lyrik, die einfach nicht genug Klickzahlen und Marktwert generiert. Das ist außerordentlich schade – es gibt vor allem dort so viel Tolles zu entdecken! Die Psychologie ist ja so: Ein Buch ist gut (aber vielleicht gar nicht besser als manch anderes) dann reißen sich alle darum, überall quellt quasi fast das Gleiche in anderen Worten hervor oder solidarisiert sich und am Ende weiß man nur mehr, wenn man es selbst in den Händen hält. Und die meisten wollen und müssen das auch, denn man kann sich nicht mehr entziehen. So entstehen Bestseller und Nummer-eins-Hits. Es ist diese Herdendynamik und Klüngelmentalität, die sich in Gang setzt, wenn ein Buch zu richtiger Zeit an richtiger Stelle rezensiert wird, am besten polarisiert es oder ist extrem gefällig und spricht die Hauptumsatzgruppe an. Das heißt, überbewertet ist der Hype um ein Buch plus eventuellem Personenkult und was das aus ihm macht – nicht das Buch selbst. Ein Beispiel wäre dieser ganze Rummel um Elena Ferrante – ich weiß bis heute nicht, was die Frau geschrieben hat, nur dass es plötzlich irgendwie wichtig war herauszufinden, wer sie ist. Total bescheuert!


Ein Gedanke zu “Was ich las: Patricia Hempels Inspiration

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