Dima Wannous über „Die Verängstigten“ und den Syrischen Bürgerkrieg

Syriens Geschichte, Gegenwart und vor allem der Bürgerkrieg sind die Themen in Dima Wannous‘ Roman „Die Verängstigten„, der auf mehreren Ebenen die „Angst vor der Angst“ thematisiert. Vergangenen Sommer konnte ich mit der Autorin, die anlässlich des internationalen literaturfestivals berlin in der Stadt war.

Glaubt man vielen Berichten, ging es den Syrern vor dem Beginn des Bürgerkriegs 2011 relativ gut. Im Nachwort deines Romans „Die Verängstigten“, das die Übersetzerin Larissa Bender verfasst hat, heißt es aber, dies sei eine „Grabesruhe“ gewesen. Wie hast du das empfunden?

Meine Kindheit in Syrien war sehr deprimierend, was ich damals aber gar nicht realisierte. Erst als ich das Land verließ, ist mir das bewusstgeworden. Ich hatte eine durchgehende, konstante Depression die ich nicht bemerkte, da ich kein anderes Leben kannte. In meiner Vorstellung war ein anderes, weniger tristes Leben auf der Erde nicht möglich, sondern nur auf einem anderen Planeten.

Als ich ein bisschen Distanz zu Syrien gewonnen hatte, dauerte es drei, vier Jahre, bis ich erkannte, dass Syrien der Grund für meine Depression war. Das liegt an der Unterdrückung der Menschen, und die kontrolliert alles – sogar meine eigenen Bewegungen, und das ganz unbewusst. Im Theater beispielsweise habe ich ganz dezent, zurückhaltend geklatscht, während ich in Beirut, wo ich später lebte, laut und frenetisch sein konnte.

Nachdem ich Syrien verlassen habe, habe ich außerdem bemerkt, welchen Einfluss die Architektur hat. In Syrien waren die Straßenzüge eigentlich schön, aber die Baath-Partei von Assad änderte dies, ließ viel umbauen und abreißen und errichtete sozialistische Gebäude, ein wenig vergleichbar mit Berlin, sehr grau, viel Beton und Platte.

Das Bildungsniveau in Syrien war generell aber hoch – oder ist das ein Trugschluss?

Nein, das Bildungsniveau ist und war sehr, sehr schlecht, auch vor 2011. Und das war volle Absicht seitens des Regimes. So wurde mit zum Beispiel verboten, außerhalb der Schule eine andere Sprache als Arabisch zu lernen, bevor ich 18, also volljährig war. Der Grund war die Annahme, eine Fremdsprache würde meine nationale Identität zerstören. Des schlechten Bildungsniveau wegen musste die syrische Bevölkerung alleine die Weltliteratur entdecken, ohne Hilfe von Institutionen.

Du hast Französisch erst ab 18 gelernt?

Ich habe Französisch in der Schule als Fremdsprache gelernt, aber es war verboten, meine Kenntnisse in einem Kulturzentrum wie dem Institut français zu vertiefen. Soll heißen: Nur unter der Überwachung des Regimes durften Fremdsprachen erlernt werden.

Du hast ja länger in Beirut gelebt. Warum hast du dich dazu entschieden, nach London zu ziehen?

Aus persönlichen Gründen. Mein Exmann wohnt in London, und mein Sohn ist jetzt in einem Alter, in dem er in der Nähe seines Vaters leben sollte. Außerdem ist nach sechs Jahren Beirut untragbar geworden wegen der Sicherheitslage und der Hisbollah.

In deinem Roman nennst du den Bürgerkrieg „Revolution“. Warum?

Weil es kein Bürgerkrieg ist.

Und warum das?

Die verschiedenen Konfessionen kämpfen nicht gegeneinander. Syrien ist von Russland und dem Iran besetzt, die gemeinsam mit dem Regime die syrische Bevölkerung töten. Aufgrund des Einsatzes von biologischen Waffen, Raketen und dergleichen kann man das nicht als Bürgerkrieg bezeichnen. Kein Bürgerkrieg vertreibt Millionen von Menschen aus ihrem Land. Wenn es ein Bürgerkrieg wäre, wären wir in Syrien geblieben beziehungsweise hätten einander getötet. Aber so ist es nicht.

Ist es nicht so, dass nicht nur das Regime mordet und Massaker begeht, sondern auch viele Gruppen untereinander? Ist das nicht doch ein Bürgerkrieg?

Das Regime tötet die Bevölkerung. Alle anderen Akteure sind Gruppen, die ihre Regionen und ihre Leute gegen das Regime verteidigen. Ich unterstütze die islamistischen Gruppen natürlich nicht, ich bin Atheistin, ich verstehe aber, warum sie gegen das Regime kämpfen. Und deshalb ist es kein Bürgerkrieg, weil es sich eben um ein Regime handelt.

In „Die Verängstigen“ spielen vor allem Frauenfiguren eine große Rolle; sowohl die Rahmen- als auch die Binnenhandlung werden von Protagonistinnen getragen, außerdem heißt es über die Männer, sie seien tot, verschwunden oder Mörder. Eigentlich spielen nur der Vater und der Geliebte von Sulaima eine Rolle, die beide aber vor allem als Projektionsfläche für ihre Gefühle sind. Warum liegt der Fokus auf den Frauen?

Während der Revolution haben die Frauen viel mehr Courage bewiesen als die Männer. Zu Beginn der Revolution, als es die vielen Demonstrationen gab, standen die Frauen immer vorne am Fenster, wenn die Polizei kam, während die Männer sich drinnen versteckten. Ich habe das selbst erlebt.

Die Männer in dem Roman sind verschwunden, im Knast, feige oder verrückt, weil das die Realität in Syrien ist. Das ist der indirekte Grund dafür. Der andere ist, dass ich eine Frau bin; den Roman zu schreiben wie eine Art Therapie für mich war.

Ist es in deinen Augen ein feministischer Roman?

Überhaupt nicht. Es ist ein Roman über die Angst.

Du lieferst mir das Stichwort. Die Angst oder vielmehr „die Angst vor der Angst“ ist das durchgehende Motiv in deinem Buch. Ist das ein Symptom der syrischen Gesellschaft?

Auf jeden Fall. Zwischen dem Putsch von Hafiz al-Assad und seiner Baath-Partei und dem Beginn des Bürgerkriegs lagen vierzig Jahre, in denen wir nicht frei leben konnten. Ich habe immer gesagt, dass es 23 Millionen Syrer gab, die vor der Revolution Angst hatten und auch das Regime und die Leute, die für das Regime arbeiten, haben in Angst gelebt. Von daher auch der Titel: „Die Verängstigten“.

Die Angst wird im Roman schon in der Schule indoktriniert. Es gibt eine Szene, die zeigt, dass sich bereits die Kinder gegenseitig überwachen und misstrauen. Ist das typisch, gibt es das oft, oder ist das eher eine Momentaufnahme aus einigen wenigen Schulen?

Eine Anekdote aus meiner eigenen Schulzeit: Ich hatte eine Lehrerin für Militärunterricht, und sie hat immer die Kinder mit dem „Gefängnis“ gedroht. Das „Gefängnis“ war ein geschlossener Raum, in den ich gesperrt wurde, wenn ich zum Beispiel von seiner Militäruniform den Gürtel vergessen hatte.

Meine Religionslehrerin jagte uns auch immer Angst vor der Hölle ein, auf ganz übertriebene Art. So erzählte sie zum Beispiel, dass wir in die Hölle kommen würden, dort verbrennen, dann wieder rausgeholt würden, eine neue Haut bekämen, um erneut in der Hölle zu landen.

Die Atmosphäre in meiner Schule war von Unterdrückung und viel Angst geprägt.

In deinem Roman spielt auch das Massaker von Hama 1982 eine wichtige Rolle, bei dem syrische Streitkräfte 20.000 bis 30.000 Zivilisten ermordeten. Welche Bedeutung hat dieses Verbrechen für die Gesellschaft und das kollektive Gedächtnis, wurde darüber überhaupt geredet und wenn ja, wie?

Über das Massaker wurde nie geredet. Bis heute gibt es Verschwundene, über deren Schicksal nichts bekannt ist. Wir wissen auch nicht, wie viele genau getötet wurden. Die Städte im Umkreis von Hama wollten damals aus Angst keine Geflüchteten aufnehmen. Diese Kultur der Angst war überall präsent. Deshalb ist im Roman auch der Arzt aus Hama nach Damaskus geflohen, nicht nur, weil es ihm da bessergehen würde, sondern auch, weil er Angst hatte. Die Menschen änderten teilweise sogar ihre Adressen in den Ausweisen, damit nicht erkennbar war, dass sie aus Hama stammen.

Relativ zu Beginn des Romans gibt es eine Szene, in der im Dorf des Großvaters eine Moschee gebaut wird, was den meisten Dorfbewohner gleichgültig ist, während der Vater sich aufregt. Andere wechseln ihre Konfession, etwa um heiraten zu können. War oder ist das gang und gäbe oder sind das Ausnahmen?

Das kommt auf die Konfession an. Ich erzähle von einem Sunniten, der Alawit geworden ist, was ein sehr extremes Beispiel ist. Es ist bekannt, dass Alawiten nicht beten und kein Kopftuch tragen, daher auch der Zorn der einen, als die Moschee gebaut wird. Wie die Reaktionen sind, kommt sehr auf die Region und die dort dominierende religiöse Richtung an.

Sunniten haben allgemein kein Problem damit, Alawiten zu heiraten, andersrum ist es aber eins. Weil sie eine Minderheit sind, haben sie Angst davor, dass sie verdrängt werden.

Nebenbei wird kurz erwähnt, dass eine Frau sich in einen Mann verliebt, von dem sie glaubt, er heiße Josef – in echt lautet sein Name aber Jussuf, er ist Moslem und kein Christ. Aus Liebe zu ihm ändert sie schließlich ihre Konfession.

Sie wechselt ihre Religion nur auf dem Papier, um ihn zu heiraten. Sie ist offiziell Muslimin, übt ihre christliche Religion aber weiterhin aus, geht in die Kirche und all das. Das basiert auf dem Leben meiner Tante, die als Christin einen Moslem geheiratet hat. Als sie alt war, wollte sie aber christlich beerdigt werden, und das wurde auch gemacht.

Du hast vorhin erwähnt, dass es für dich eine Art Therapie war, den Roman zu schreiben. Ich weiß, die Frage kommt immer, ich muss sie aber trotzdem stellen: Wie autobiografisch ist der Text?

Diese Frage habe ich erwartet. Ich will nicht immer die gleiche Antwort geben, deswegen drücke ich es so aus. Es gibt eine Redewendung, die sagt: Ein Schriftsteller wird dann gut, wenn seine ganze Familie gestorben ist. Und ich hatte das Gefühl, dass meine Familie lange mit dem Sterben braucht, deswegen habe ich mir gesagt: Ich schreibe das jetzt.

Mit „Die Verängstigten“ warst du auf der Shortlist des Arabic Prize for International Fiction und beim Weltempfänger der Litprom auf dem ersten Platz. Was bedeuten Nominierungen und Auszeichnungen für dich?

Das ist auf jeden Fall toll, schon deswegen, weil das mein Job ist. Mir ist aber vor allem wichtig, dass die Geschichten bekannt werden. Wenn auch nur ein Deutscher die Geschichte von einem Syrer hört, ist schon viel gewonnen. Ich hoffe, dass Literatur etwas ändern kann. Es gibt viele Beispiele aus Lateinamerika oder Europa, bei denen die Bücher erst nach und nicht während der Revolution geschrieben wurden. Die Rolle der Romane war, etwas zu erzählen und nicht, ein Problem zu lösen – Auszeichnungen helfen bei der Sichtbarmachung, lösen aber keine Probleme. Mit dem Preisgeld kann ich meine Miete zahlen.

Viele Syrer sind nach 2011 nach Deutschland geflohen, in deinem Roman ist es Nassim. Bekommst du von der politischen Situation hier etwas mit?

Ja, ich beobachte die politischen Entwicklungen in Deutschland. Sie sind aber nur Teil eines generellen Erstarkens des Rechtsextremismus in ganz Europa.

Ist ein Ende des Krieges beziehungsweise der Revolution absehbar? Ist eine friedliche Lösung nur mit Assad, auch wenn er vielleicht nur eine Marionette ist, möglich?

Wenn es ein Bürgerkrieg wäre, könnte man Hoffnung auf ein Ende dessen haben. Es ist aber kein Bürgerkrieg, die Lage ist viel schlimmer. Es ist nicht mehr wichtig, ob Assad an der Macht ist oder nicht, da Syrien besetzt ist und das wahrscheinlich auch lange bleiben wird. Die geflohenen Syrer könnten vielleicht zurückgehen, wenn Assad vor Gericht gestellt oder getötet würde. Mit Assad ist keine Lösung möglich. Viele für mein Leben wichtige Menschen sind entweder durch Folter oder aus anderen Gründen gestorben oder verschwunden, ohne dass wir über ihren Verbleib wissen.

Das heißt, eine Rückkehr ist ausgeschlossen?

Es tut mir leid, aber: Die Syrer werden in Deutschland bleiben!

Dieses Interview wurde (leicht gekürzt) bereits in der taz veröffentlicht.


2 Gedanken zu “Dima Wannous über „Die Verängstigten“ und den Syrischen Bürgerkrieg

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s