
Siri Hustvedt – Damals (Rowohlt, 2019)
„Der Mann konnte es nicht wissen, aber er hatte etwas in mir zum Platzen gebracht. Seit langem, schien es mir, war ich vom Dauerbeschuss herablassenden Lächelns, zurechtweisender Kommentare und verführerischer Andeutungen, die mich aus allen Richtungen trafen, durchgerüttelt worden. Ich fragte mich düster, warum alle immer versuchten, mich zu belehren. Nein, das war vorbei.“
Siri Hustvedts autofiktionaler Roman „Damals“ (schöner mal wieder der Originaltitel: „Memories of the Future“) führt uns ins New York der siebziger Jahre. Bevor sie sich ihrem Studium an der Columbia widmet, möchte die junge Ich-Erzählerin S.H. ein Jahr lang leben und schreiben. „Damals“ ist auf mehreren Ebenen erzählt: Die Perspektive der älteren, gereiften Schriftstellerin wird verwoben mit den Erlebnissen der 23-jährigen naiven Frau aus Minnesota, eingeschoben sind zudem alte Tagebucheinträge und die Detektivgeschichte, die S.H. während dieses Jahres verfasst. Klingt kompliziert, ist aber schlüssig, denn: „Eine Geschichte wird zu einer anderen, und viele Geschichten sind irgendwie dieselbe.“
Nicht nur Erinnerungen und Selbstfindung sind ein großes Thema, vor allem das Machtgefälle von Männern und Frauen beschreibt Hustvedt, damals nicht so empfunden, rückblickend aber umso unerträglicher.
In weiteren Rollen: Eine verrückte Nachbarin, die im Nebenzimmer verstörende Selbstgespräche führt, Hunger, eine Beinahe-Vergewaltigung, eine Art Sekte und auch, ja, schließlich wird die Geschichte aus der Gegenwart erzählt, die aktuelle gesellschaftliche Situation in den USA und Trump.
Siri, groß wie immer. Ich freue mich sehr daraus, sie am 11. April in Berlin zu erleben! (…was dann nicht geschah. Die Lesung wurde kurzfristig abgesagt.)
Jarett Kobek – Unsere wunderbar kurze Zukunft (S. Fischer, 2018)
„Reader, take note of this unfortunate and disagreeable boy. His name was Michael Alig. By the end of the book, he and a friend will bash in the head of a drugdealer… leave the corpse to rot in the bathtub over a week, chop up the body, put its remains in a box, and throw it into the Hudson River.”
Es ist wirklich nicht einfach, ein Zitat aus „The Future Won’t Be Long“ von Jarret Kobek zu finden, das für den ganzen Roman steht, beinhaltet er doch mehrere Themen, darunter Coming of Age, Freundschaft, die Partyszene New Yorks der Achtziger und Neunziger sowie, fast schon nebenbei, die Analyse dessen, warum New York innerhalb weniger Jahre von einer abgefuckten No-Go- zu der gentrifizierten blingbling Stadt wurde, die sie heute ist.
Kurz nach seinem High-School-Abschluss kommt ein junger Schwuler aus Wisconsin nach New York, entscheidet sich dazu, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich ab sofort Baby zu nennen. Noch an seinem ersten Tag lernt Baby Adeline kennen, die ihn in die Kunst-, Drag- und Clubszene Manhattans einführt. 400 Seiten (englische Ausgabe) und ein gutes Jahrzehnt lang folgen wir der Freundschaft von Baby und Adeline. In dieser Zeit rutscht Baby hinein in den Kreis der Club Kids rund um Michael Alig. Wem das kein Begriff ist: Googlet mal Club Kids (zu denen übrigens auch Paul Austers Sohn aus erster Ehe gehörte); das waren verdrogte Twentysomethings, die bekannt waren, weil sie bekannt waren, und die man gut und gerne als Metapher für eine komplett panne, gelangweilte wie kapitalisierte Gesellschaft sehen kann; die Geschichte, die in dem Mord von Aligs Drogendealer kulminierte, wurde 2003 übrigens unter dem Titel „Party Monster“ mit Macaulay Culkin als Michael Alig verfilmt.
Ihr merkt schon, es ist nicht einfach, „The Future Won’t Be Long“ in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Bis auf ein paar kleinere Längen ist das ein toller Roman, stilistisch ganz unterschiedlich, der einen guten Einblick in das Leben eines fast schon nicht mehr existenten East Village, Junkies, Musik, Sex, Freundschaft, Liebe, Enttäuschungen und so interessante popkulturelle Referenzen, dass ich andauernd Handy oder Laptop zückte, um Namen, Ereignisse oder Songs zu nachzuschlagen.
Wem der Name des Autors bekannt vorkommt, „The Future Won’t Be Long“ ist das Prequel zu „Ich hasse dieses Internet“, das ebenfalls von Adeline und Baby handelt. Und was ich erst heute gesehen habe: Vergangenes Jahr wurde bei S. Fischer in der Tat eine deutsche Übersetzung, „Unsere wunderbar kurze Zukunft“, veröffentlicht. Lief KOMPLETT unter dem Radar, auch ich habe das nicht mitbekommen, obwohl es hier um gritty old New York geht, meinem absoluten Lieblingsthema in Film wie Buch.
E. B. White – Here Is New York (nicht auf Deutsch erschienen)
„The city is like poetry: it compresses all life, all races and breeds, into a small island and adds music and the accompaniment of internal engines. The island of Manhattan is without any doubt the greatest human concentrate on earth, the poem whose magic is comprehensible to millions of permanent residents but whose fill meaning will always remain elusive.”
„Here Is New York”, so lautet ein Essay des Autors E. B. White aus dem Jahre 1949, allerdings: „The thought occurs that this book should now be called Here Was New York”, überlegt Roger Angell, Stiefsohn Whites und selbst Journalist, im Vorwort der Ausgabe zum fünfzigjährigen Jubiläum. Weitere 20 Jahre später, 2019 also, gilt dieser Gedanke umso mehr, aber, wie White selbst sagt und worauf Angell ebenfalls hinweist: „I feel that it is the reader’s, not the author’s duty, to bring New York down to date.”
Obwohl viele der Orte in „Here Is New York” nicht mehr existieren, so gehört dieses Essay zusammen mit „Goodbye To All That“ von Joan Didion zu den essentiellsten (Kurz-)Texten, die je über New York geschrieben wurden. Viele von E. B. Whites Beobachtungen sind heute noch gültig. Die Stadt erfindet sich zwar gefühlt alle fünf Jahre neu, und doch war sie schon immer (naja „immer“) die heimliche Hauptstadt der Welt, die internationalste, kulturell bedeutendste, geprägt von den gebürtigen New Yorker*innen, den Pendler*innen und jenen, die dorthin zogen, um ihr Glück zu finden, geprägt von den vielen Nationalitäten, der Schnelligkeit, des Lärms und der ganz eigenen urbanen Poesie, die die Stadt hat – all das so wunderbar beschrieben in diesem 70 Jahre alten Text.
(Als Fußnote: Ein wenig gruselig auch, dass E. B. White am Ende dieses Essays mehrfach auf die „mortality“ der Stadt und „the destroying planes“ verweist.)
Auf Deutsch übersetzt wurde „Here Is New York“, wenn ich das richtig sehe, übrigens nie. Wer weiß mehr?
Hallo,
da fragt man sich, warum das deutsche Buch nicht auch „Erinnerungen an die Zukunft“ benannt wurde… Sehr viel aussagekräftiger als „Damals“. Aber so oder so möchte ich das Buch noch lesen.
Interessant – ich hatte keine Ahnung, dass Paul Austers Sohn ein Club Kid war. Aber ich weiß ohnehin nicht allzu viel über die Club Kids, ich kann mich nur vage daran erinnern, mal gelesen zu haben, dass deren Geschichte mit diesem Mord ihr Ende nahm.
LG,
Mikka
[ Mikka liest von A bis Z ]
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Ich finde „Damals“ auch sehr vage…
Ja, Michael Alig hat seinen Drogendealer, dem er Geld schuldete, ermordet (die Szene wird in dem Zitat, das ich der Kurzbesprechung vorangestellt habe, geschildert), und Paul Austers Sohn war, soweit man weiß, zwar nicht direkt an dem Mord beteiligt, zum Tatzeitpunkt in der Wohnung aber anwesend.
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