
Marjolijn van Heemstra – Ein Name für Dich (Hoffmann und Campe, 2019)
„One of the main things I wanted to express is how intertwined past, present, and future are.“
Im Gespräch mit fellow Autorin Kristine Bilkau stellte Marjolijn van Heemstra ihren frisch erschienen Roman „Ein Name für Dich“ vor. Nicht vom Titel irritieren lassen: Er sagt zwar viel über den Inhalt aus, klingt aber um einiges kitschiger, als das Buch ist. Van Heemstra erzählt darin ihre Familiengeschichte, und auch wenn es zwecks Dramaturgie kleinere Änderungen gab, ist der Roman so autofiktional, dass sie mehrfach „ich“ statt „die Protagonistin“ sagt.
Marjolijn bekommt zu ihrem 18. Geburtstag einen auffälligen Ring, ein Familienerbstück, geschenkt (den die Autorin übrigens immer noch trägt), und gibt zugleich ihrer Großmutter das Versprechen, einen etwaigen Sohn nach ihrem Onkel, der in der Familie als Widerstandskämpfer unter den Nazis gilt, zu nennen: Frans Julius Johan. 15 Jahre später ist sie in der Tat schwanger mit einem Jungen und setzt sich erstmals mit diesem Namen und der Geschichte dahinter auseinander.
Dafür wühlt sie in Archiven, spricht mit Augenzeugen, und erkennt: Was für die einen ein Widerstandskämpfer ist, war damals ein Terrorist – würde Frans heute leben, hätten wir vielleicht Angst vor ihm. Im Laufe ihrer Recherche lernen Figur wie Autorin die Nachfahren einer Familie kennen, die bei dem Bombenanschlag, den Frans zu verantworten hatte, ein Kind verlor. Und das führte zu einer schrägen Situation: Alle weinten, während Marjolijn van Heemstra sich für die Taten eines Mannes entschuldigte, den sie nie kennenlernte, und die Familie wiederum Absolution erteilen musste für den Tod eines Mädchens, das sie nie kannte.
„Ein Name für Dich“ war in den Niederlanden übrigens der Liebling der Buchhandlungen und ist heute schon Schullektüre – und ein guter Anstoß, sich mit der eigenen Familiengeschichte, auch deren weniger ruhmreiche Seiten, auseinanderzusetzen.
ACUD macht neu, 04. Juli 2019, Moderation: Kristine Bilkau
Simon Carmiggelt – Auf ein Gläschen (Unionsverlag, 2019)
„Nun habe ich mal gehört, wie das Trinken als ein ‚vom Dach springen mit dem Vorsatz, nur eine Etage tief zu fallen‘ charakterisiert wurde. Da jeder Teilnehmer an der traditionellen vaterländischen Trinkstunde tief im Herzen weiß, dass er sich während der ersten Gläser entschließt, wie viele Etagen eventuell noch hinzukommen könnten, versteckt er sich ängstlich hinter der Maske eines Menschen, der gleich brav nach Hause geht, denn anfangs kann seine noch intakte Logik es nicht über sich bringen, seine eher geheime Absicht beim Namen zu nennen.“
Der Titel „Kneipengeschichten“ ist zu lapidar, betrachtet man die Geschichte, die hinter diesem Buch steht: Simon Carmiggelt schrieb, jetzt haltet euch fest, 41 Jahre lang sechs Tage die Woche (angeblich, ohne einen einzigen Tag auszulassen) seine sogenannten Kronkels, aus 500 Wörtern bestehende literarische Miniaturen aus dem Amsterdamer Stadtleben. Wie das menschenmöglich ist, es ist mir ein Rätsel.
„Auf ein Gläschen“ nun vereint gut 40 dieser Kronkels, die fast allesamt in schummerigen Kneipen spielen. Die beiden Übersetzer Gerd Busse und Ulrich Faure sagen im Nachwort, es sei Carmiggelts Stil zu verdanken, dass die Kronkels auch ein halbes Jahrhundert später noch „frisch geschrieben“ wirken. Das stimmt. Zeitlos sind sie aber nicht: Die Kneipen-Kronkels erzählen von einem Amsterdam voller dunkler Spelunken, in denen der Zigarettenrauch hängt und die Männer meistens unter sich bleiben, weil die Frauen zu Hause auf sie warten. Trotz dieses Fokus werden die Männer aber nicht verherrlicht, im Gegenteil: Es sind abgehalfterte Menschen, die traurig in ihren Jenever starren, die ohne Vergnügen trinken, die mit der Einsamkeit ringen oder diese Kneipen aufsuchen, um sich gegenüber den anderen, noch abgehalfterteren Gestalten überlegen zu fühlen.
Carmiggelt beweist ein gutes Auge fürs Detail, für die zwischenmenschlichen Beziehungen, er kreiert Bilder, die einprägsam sind, und ihm gelingt, in besagten 500 Wörtern eine ganze Geschichte zu erzählen. Allerdings: Diese funktionieren einzeln, Tag für Tag in der Zeitung, besser als gesammelt in einem Band.
Und ohne dieses Wissen darum, dass es Simon Carmiggelt hinbekam, mehr als vier Jahrzehnte lang Geschichten in dem Straßen Amsterdams zu finden, verpufft der Effekt der „Kneipengeschichten“ ein wenig. Dennoch, und vor allem mit Kenntnis des Hintergrundes: gern gelesen. Allein schon wegen Weisheiten wie dieser: „Die Abstinenzler haben recht, aber nur die Trinker wissen, warum.“
Theo Thijssen – Ein Junge wie Kees (Wallstein, 2019)
„Viele Leute scheinen Kees Bakels überhaupt nicht gekannt zu haben, was eigentlich kaum zu verstehen ist. Ist er denn nicht praktisch der bedeutendste Junge gewesen, den es je gegeben hat? Nur durch einige unglückliche Zufälle ist aus ihm kein berühmter Mann geworden, aber dafür konnte er doch nichts! Jedenfalls ist es kein Grund, gleich so zu tun, als hätte es ihn gar nicht gegeben.“
Mit diesen Worten beginnt „Ein Junge wie Kees“, und wie recht hat der Prolog: Es lohnt sich, Kees kennenzulernen. Kees ist der Protagonist dieses niederländischen Klassikers von Theo Thijssen, der ab 1908 entstand und 1923 erstmals vollständig publiziert wurde; bis zur ersten vollständigen Übersetzung (von Rolf Erdorf) ins Deutsche dauerte es fast 100 Jahre.
Kees wächst Ende des 19. Jahrhunderts im damaligen Armenviertel Jordaan in Amsterdam auf, in einer kleinen Wohnung mit angrenzendem Ladenlokal. Der Alltag des Zwölfjährigen besteht darin, sich in erfundene Heldenszenarien zu träumen, in denen er Fremde mit seinen Französischkenntnissen beeindruckt, wertvolle Briefmarken in seinen Besitz gelangen oder sich endlich traut, Rosa Overbeek anzusprechen. Auch fern dieser Fantasien erweist sich Kees als kreativ, erfindet etwa den „Schwimmbadschritt“, bei dem man sich „beim Gehen vornüber neig[t], ganz als ob man ständig hinfiele, und dann immer die Arme schwenken, hin und her.“ Doch bei all dem Vorstellungsvermögen kann Kees die harte Realität, in der sich seine Familie und er befinden, nicht für immer ausblenden.
Kees ist als Figur wie Roman so populär in den Niederlanden, dass Kinder nach ihm benannt werden, und der Roman 2008 zu den 50 wichtigsten Ereignissen der Geschichte Amsterdams seit 1250 aufgenommen wurde. Der Roman, so heißt es im Nachwort des Übersetzers, sei ein Stück Seele von Holland. Zu Recht: Thijssen beschreibt die Welt aus der Sicht seines Protagonisten, der gewitzt, verträumt und ein wenig altklug ist; zugleich wird ein wenig glamouröses Bild Amsterdams gezeichnet, ohne dabei in den Duktus eines pädagogischen Sozialdrama zu rutschen.
Ich werde zeitnah noch ein paar Worte zu Kees schreiben, aber schon jetzt möchte ich die Übersetzung von Rolf Erdorf hervorheben: Ihm gelingt es durch nur wenige Worte („Nulpe“, großartig!), einen Zeitkolorit aufleben zu lassen. Die Übersetzung eines 100 Jahre alten Buchs, das vor 130 Jahren spielt, weder zu modern noch altbacken klingen zu lassen, ist wirklich eine große Leistung.