
Die beiden Freundinnen Esther und Sulamith wachsen in der engen Gemeinschaft der Zeugen Jehovas auf – bis etwas geschieht, das ihr Leben verändert. Kurz darauf zieht Esthers Familie in ein ostdeutsches Dorf, um kurz nach dem Fall der Mauer neue Strukturen für die Zeugen aufzubauen. Und Esther beginnt, alles, was sie für richtig und wahr hielt, infrage zu stellen. In „Kein Teil der Welt“ verarbeitet Stefanie de Velasco ihre Erfahrungen bei den Zeugen Jehovas. Wie kam es dazu? Ein Gespräch in der Schöneberger Kneipe Möve im Felsenkeller.
Foto: © Joachim Gern
Der Titel deines Buches, „Kein Teil der Welt“, ist zugleich eine Selbstbeschreibung der Zeugen Jehovas. Was ist das für ein Mikrokosmos, der sich in der „Wahrheit“ sieht und somit in Opposition zur „Welt“ steht?
Der Titel ist das Credo der Zeugen Jehovas, der auf einem Ausspruch von Jesus basiert, und der im Grunde die Stimmung beschreibt, in der man groß wird. Alles, was gut und recht ist, ist innerhalb der Gemeinschaft, während die Welt außen beschmutzt ist. Der Glaube durchdringt die Lehre und den Alltag, Begriffe wie „er ist in der Wahrheit“ sind geläufig. Diese Abgrenzung nach außen kann man sich ein wenig wie den Beschützungszauber in „Harry Potter“ vorstellen. Sie ist aber einseitig durchlässig, immerhin geht es den Zeugen Jehovas auch darum, rauszugehen und neue Schafe zu gewinnen.
Lidia und Sulamith kommen als Geflüchtete zu den Zeugen, später Cola, die von ihrem Vater vernachlässigt wird – kann dieser Mikrokosmos auch Schutz, Halt bedeuten?
Auf jeden Fall. Dafür gibt es viele Beispiele von geschlossenen Systemen, ob die Zeugen, die AfD, radikal islamische Kirchen oder auch die RAF – mit dem Unterschied aber, dass die Zeugen Jehovas nicht gewalttätig sind. So eine Gemeinschaft, die für einen da ist, bietet den Menschen, die sich einsam und von der Welt missverstanden fühlen, Zuflucht.
Nicht nur Geflüchtete werden „rekrutiert“, ein Großteil des Romans spielt im Nachwende-Ostdeutschland. Welche Bedeutung hatte diese fragile Gesellschaft nach dem Mauerfall für die Zeugen Jehovas?
Sie waren in der DDR verboten, lebten im Untergrund und hatten so keine Möglichkeit, von Haus zu Haus zu gehen. Sie waren sehr resilient. Nach dem Mauerfall wurden Gemeinden von Westdeutschland und der ganzen Welt unterstützt, Dienstälteste hingeschickt, um eine Infrastruktur wie die Königreichssäle aufzubauen. Sie haben sich, wie andere Unternehmen auch, in Ostdeutschland angesiedelt. So habe ich die Zeugen Jehovas für meinen Roman auch gesehen: wie ein religiöses Unternehmen, das gut strukturiert und organisiert ist. Natürlich gab es eine gewisse Abenteuerlust, vor allem aber den Glauben, Heil zu bringen, die „Wahrheit“ zu verkünden. Im ganzen Ostblock hatten die Zeugen Jehovas sehr viel Zulauf. Interessant ist außerdem die Parallele zum Sozialismus, bei Begriffen wie „Pioniere“ und natürlich ideologisch. Beispiel Marx: Er sieht das Ende des Kapitalismus, der im Sozialismus mündet. Er beschreibt damit die Unvermeidbarkeit eines Zusammenbruchs, was aber in einem Paradies endet. Diese Utopien, gleich ob Gottesstaat oder Kommunismus, ähneln sich.
Wie du gerade sagtest: Mehrfach wird thematisiert, auch anhand Esthers Familiengeschichte, dass die Zeugen Jehovas während des Nationalsozialismus und der DDR verfolgt wurden.
Das war mir sehr wichtig. Der Umgang mit der Verfolgung, wie sich das auf die Zeit, in der der Roman spielt, auswirkt, fand ich am interessantesten an dem Stoff: Märtyrertum und Widerstand zugleich. Einerseits gab es zivilen Ungehorsam gegen die Terrormacht der Nazis, andererseits war es ihnen auch möglich, in den Tod gehen zu können, da es wie bei Selbstmordattentätern die Vorstellung eines Jenseits gibt. Dieses Spannungsfeld hat mich sehr interessiert.
Der Mikrokosmos wird als extrem patriarchale Gemeinschaft beschrieben. Welche Stellung hat die Frau in dieser Struktur? Und warum wählst du zwei Mädchen als Protagonistinnen?
Frauen haben nichts zu melden, sie dürfen keine Ämter übernehmen, nur in den Dienst gehen. Da war es konsequent, den Roman aus weiblicher Perspektive zu erzählen. Die Mütter von Esther und Sulamith sind beide sehr präsent und wollen das Beste für ihre Töchter, bewirken damit aber das Gegenteil und merken das nicht. Sulamiths Mutter Lidia ist alleinerziehend, möchte das durch besondere Standhaftigkeit und Glauben wettmachen und ist dadurch noch gefangener in den Strukturen.
Welche Bedeutung hat Esthers Vater? Sulamith sagt über ihn: „Wenn du jemanden von klein auf kennst und der sich immer wie dein Vater aufgeführt hat, dann gibt es einen Teil in dir, der glaubt, dass dieser Mann das Recht hat, alles über dich zu wissen und über dein Handeln zu urteilen.“
Sulamith wird von Esthers Eltern wie ein Ziehkind behandelt. Ihre Mutter ist oft krank, also bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als sie mitzuerziehen. Das ist ihnen aber auch Recht, denn Esthers Mutter ist ein Kontrollfreak. Ihr Vater gilt als verlängerter Arm von Gott, als Richter und als Sprachrohr Jehovas. Das kann man sich so vorstellen: Wenn Jehova das Bundesverfassungsgericht ist, ist der Vater das Verwaltungs- oder Amtsgericht. In der Hierarchie über ihm ist der „treue und verständige Sklave“ von Gott – was eigentlich ein paar alte Säcke in den USA sind, die sich als göttlichen Kanal verstehen.
Mich hat die Rolle von Esthers Mutter sehr interessiert. Sie ist so überzeugte Zeugin, dass man das Gefühl hat, sie stelle den Glauben über das Wohl der eigenen Tochter. Aber du hast es eben schon gesagt: Gerade da sie ihren Glauben als richtig erachtet, will sie mit ihren Anweisungen nur das Beste für Esther, obwohl das nicht so wirkt. Kannst du sie ein wenig beschreiben?
In ihren Augen ist sie die beste Mutter, die es geben kann. Sie will an Harmagedon nicht sagen müssen, sie hätte nicht alles für ihre Tochter und ihre Mitmenschen getan und Gottes Willen zu 100 Prozent erfüllt. Sie lebt in der vollen Überzeugung, dass es gar keine andere Alternative gibt. Esther hingegen leidet unter dem Druck von ihrer Mutter und der Gemeinschaft. In den Augen von Esthers Mutter ist es Satan, der ihr dieses Gefühl gibt – Esther solle einfach ihr Herz für Jehova öffnen. Später fixiert sie sich auf Cola und verliert das Interesse an der eigenen Tochter. Diese ganze Welt der Zeugen Jehovas ist starr wie ein stehender Tümpel, faulig, stinkig, nichts ist in Bewegung.
Zu Sulamith, Cola und Hanna hat Esther ganz unterschiedliche Freundschaften. Was charakterisiert diese? Und wie wichtig ist Freundschaft für sie?
Es ist witzig, dass viele das Buch als Buch über eine Freundschaft lesen, vielleicht wegen „Tigermilch“. Für mich ist das weniger ein Buch über Freundschaft denn über Verlust. Sulamith und Esther sind wie Schwestern großgeworden, im doppelten Sinne: als Glaubensschwestern und sie haben alles geteilt wie Schwestern. Der Verlust ist nicht nur der Verlust der Freundin, sondern auch der eines Familienmitglieds. Was Cola betrifft: Esther folgt ja einem Geruch und landet so auf der Biberfarm, auf der Cola lebt. Sie hat sich Cola nicht unbedingt als Freundin ausgesucht, sondern ist einsam. Esther und Cola passen nicht wirklich zusammen, sie ist von ihrer Welt abgestoßen, Cola bleibt ihr fremd. Als Cola wiederum anfängt, auf den Glauben abzufahren, ist Esther emotional schon lange raus. Sie benutzt sie wie Sulamith Esther benutzte, um mit Daniel zusammen zu sein; Esther sollte für Sulamith lügen. Die Situation war für Sulamith auch schwierig, diese Gemeinschaft zu verlassen … das geht nicht ohne auf anderen rumzutrampeln. Ich mag diese Wiederholung, das Verhaltensmuster: Die gleichen Fehler zu machen ist menschlich.
Wieso hast du dich dazu entschieden, die Geschichte aus der Sicht der passiven Esther, die nicht gegen das System rebelliert, zu erzählen, anstatt aus Sulamiths Perspektive, die die Glaubensgemeinschaft früh im Roman infrage stellt?
Das war keine Entscheidung, Esther als Figur war einfach da. Ich entwerfe nicht am Reißbrett, sondern folge meiner Intuition. Und sie war ganz schön mundfaul, saß einfach nur rum. Ich konnte ihr aber nicht sagen: Da ist die Tür! Gerade weil sie so verschlossen war, fand ich sie sehr interessant. Ich hätte es als falsch empfunden, eine Aussteigergeschichte zu schreiben, das wäre zu einseitig gewesen. Dafür ist dieses ganze Universum zu spannend. Man kann auch nicht richtig aussteigen, das hängt für immer an dir. Vergleichbar mit der Situation meiner Mutter: Sie kam zwar in den sechziger Jahren aus Spanien nach Deutschland, aber ein Teil von ihr wird hier immer fremd bleiben, allein, weil es die Gesellschaft suggeriert.
Sulamith wird beschrieben als Person, die die Menschen aus der Bibel sehr beschäftigen. Ist gerade ihre emotionale Bindung zu den Geschichten wichtig für ihren Bruch mit den Zeugen Jehovas?
Ja. Wenn Lehre und Glaube nichts bedeuten, kann man nicht zweifeln. Sulamith nimmt das ernst, sie lässt die Menschen an sich heran und macht sich wahnsinnig viele Gedanken, wodurch sie auf Widersprüche stößt und alle infrage stellt.
Über Esther hingegen heißt es: „Ich hatte mir, ehrlich gesagt, über nichts, was in der Bibel stand, Gedanken gemacht. Ich nahm es hin und hielt es für die Wahrheit, weil ich es nicht anders kannte.“ Was ist der Auslöser für sie, diese „Wahrheit“ doch zu hinterfragen?
Der Verlust der Freundin. Sonst wäre sie weiter mitgegangen. Das kennen wir ja von uns selbst, dass eigentlich niemand wirklich aus seiner Komfortzone herauswill, und das hätte Esther tun müssen.
„Kein Teil der Welt“ liest sich nicht wie eine Abrechnung mit deiner Vergangenheit.
Ich habe mich nicht bemüht, keine Abrechnung zu schreiben. Ich wollte die Zeugen Jehovas nicht in gutem Licht darstellen, sondern das gesamte Universum schildern, und das geht nur, wenn man alle Seiten zeigt. Meine Faszination bestand in den Fragen, in was für einer Verfassung man sein muss, um den Zeugen beizutreten, wie ein geschlossenes System funktioniert und was weißer religiöser Fundamentalismus bedeutet.
Warum hast du dich dazu entschieden, einen fiktionalen Roman, kein Sachbuch zu schreiben?
Weil ich Schriftstellerin bin und keine Memoiren-Tante. Ich hätte die Geschichte ohne Fiktionalität auch nicht erzählen können, ich brauchte den Abstand. Autobiografisches Schreiben interessiert mich so sehr wie kaufmännische Angestellte werden.
In einem Interview erwähnst du die Bedeutung des Films „Die Truman Show“. Was hat es damit auf sich?
Mit dem Film gibt es für die Frage, wie es war, bei den Zeugen Jehovas aufzuwachsen, einen adäquaten Vergleich, nur sah meine Welt nicht so schön aus wie die von Truman. Dieses Moment, in dem seine Welt Risse bekommt, er sich wundert: Was ist das denn?, das kenne ich auch. Bei ihm ist der Regisseur der Gott, der alle Fäden zieht. Eine andere Parallele besteht darin, dass ihm Angst vor Wasser eingeimpft wird, damit er nicht flieht. Ähnlich ist es auch bei den Zeugen Jehovas, die sagen, dass die Welt da draußen böse ist und man sie nicht überleben wird. Sie kreieren eine Art Todesstreifen. Wie Truman wird man fundamental belogen und muss sich nach dieser Erkenntnis neu zusammensetzen.
Seit 2017 haben die Zeugen Jehovas in ganz Deutschland den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechtes. Sind sie für dich eine Sekte?
Ich darf sie zwar nicht so bezeichnen, bin aber dieser Meinung.
Vielen Dank für das Gespräch!
Eine gekürzte Version des Interviews erschien bereits in der Ausgabe 24/2019 von tip Berlin.
Danke für die Buch-Vorstellung per Interview mit der Autorin.
DIese Glaubenslehre ist sehr festgefügt, selbstbezüglich und undurchlässig. Daher ist gut nachvollziehbar, dass die Widersprüche zwischen Innenwelt und Außenwelt konfliktreich sind wie persönlich schmerzhaft.
Dass dies nicht allein Sekten oder sektenhafte Gruppen betrifft, sondern auch die großen Kirchen, wird deutlich an den Mißbrauchs-Skandalen und dem Umgang damit.
Was die Zeugen Jehovas betrifft, sage ich in Gesprächen, dass sie im Nationalsozialismus den Kriegsdienst verweigert und in Konzentrationslagern gelitten haben.
Trotz alledem: frohe Feiertage und gute Wünsche zum neuen Jahr!
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