
Fernando Contreras Castro – Única blickt aufs Meer (Maro, 2020)
„Jetzt gab es aber ohnehin nur noch das Meer mit seinen Gezeiten, ausgelöst von den beiden Traktoren, die von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang tonnenweise den Abfall aufstapelten, den ihnen die Stadt in immer großzügigeren Mengen zukommen ließ.“
Das Meer, auf das Única blickt, ist kein anderes als ein Müllmeer. Seit 20 Jahren lebt sie in Río Azul am Fuße von Costa Ricas Hauptstadt San José, und in ebendieser Zeit hat sich der einst kleine Müllhügel in ein alles verschlingendes Müllmeer gewandelt. Die rund 400 Bewohner*innen der Deponie werden „Taucher“ genannt: Sie verbringen den Großteil ihres Tages damit, im Müll nach Essbaren zu tauchen. Doch ihre Zukunft steht auf dem Spiel: Die Nachbar*innen von Río Azul wollen die stinkende, toxische und wachsende Mülldeponie nicht länger erdulden.
Fast drei Jahrzehnte sind seit der Erstpublikation von „Única blickt aufs Meer“ vergangenen – aber thematisch könnte der Roman von Fernando Contreras Castro aktueller kaum sein. Anhand des Alltags auf der Müllkippe erzählt er von Umweltverschmutzung, Armut und sozialen Differenzen sowie von korrupten Politikern, die keinerlei Bestrebung haben, etwas zu verbessern.
Dabei spart Contreras Castro nicht mit Seitenhieben: So heißt der Präsident, der sich mehr für die Konzerne, die ungeachtet der Umweltbedingungen eine neue Mülldeponie errichten wollen, und nicht für die Menschen interessiert, Caldagueres – ein Name, der nicht zufällig an die costa-ricanischen Präsidentenfamilien Calderón und Figueres erinnert. Und die Costa Ricaner*innen im Roman? Kaufen, konsumieren, schmeißen weg und verschmutzen so munter vor sich hin. Denn wo der ganze Müll landet, bekommt außer den Taucher*innen kaum jemand mit.
„Única blickt aufs Meer“ (deutsch von Birgit Weilguny) ist weniger ein literarischer Text – stilistisch ist er nicht herausragend – denn kluge Analyse einer sozialen Realität und scharfer Kommentar eines Autors, der das neoliberale System seines Landes unter die Lupe nimmt; eine Situation, die sich von Costa Rica problemlos auf die anderer armen und von der Klimakrise sowie Massenkonsum betroffenen Menschen in vielen Regionen der Welt übertragen lässt.
Fernanda Melchor – Saison der Wirbelstürme (Wagenbach, 2019)
„Ich hatte gedacht, sie wollten mit der Hexe nur was verhandeln, wie konnte ich denn ahnen, dass sie sie umbringen wollten, ich bin ja nicht mal aus dem Wagen gestiegen, die ganze Zeit über saß ich hinterm Steuer und habe auf sie gewartet, die Arschlöcher waren nämlich ziemlich lang in dem Haus drin…“
Gar nicht so leicht, eine Stelle in „Saison der Wirbelstürme“ von Fernanda Melchor zu finden, die sich zitieren lässt; die Sätze sind irre lang, ziehen sich gerne über eine halbe Seite. Das ist aber nicht schwierig zu lesen, da Fernanda Melchor, wie hier schon zu sehen ist, wenig mit Einschüben arbeitet, und nur hie und da wechselt sie im Satz die Perspektive, aber auch das stellt für geübte Leser*innen keine Herausforderung dar. „Saison der Wirbelstürme“ beginnt mit dem Mord an der „Hexe“ des Dorfes, ein Mord, um den sich die ganze Handlung spiralförmig dreht; die meisten Kapitel setzen vor der Tat an, um dann darauf zurückzukommen. Dabei geht es weniger um das Whodunit, sondern um die Brutalität in diesem Dorf an sich. Entsprechend sind auch die Figuren, gleich welchen Alters oder Genders, relativ austauschbar – sie sind Parabeln einer Gesellschaft und nicht primär eigenständige Protagonist*innen. Und auch die Hexe, das wird spätestens ab der Hälfte klar, ist keine Hexe, sondern eine Metapher.
Fast alle Leser*innen und Kritiker*innen thematisieren, wenn es um „Saison der Wirbelstürme“ geht, zunächst die Gewalt in dem Roman (insbesondere gerichtet gegen Frauen und jegliche Weiblichkeit), die physischer wie verbaler Art ist. Nun, der Roman ist brutal – aber hier kommt es auf die persönlichen Lesegewohnheiten an (von Zeitungsberichten aus Mexiko ganz zu schweigen, die jegliche Fantasie an Abartigkeit, die Menschen anderen Menschen antun können, übersteigt). Was mich ein wenig gestört hat, ist nicht die Gewalt, sondern die Tatsache, dass ich die Rezeption des deutschen Publikums mitgelesen habe: Das Mexiko in diesem Roman ist sehr folkloristisch und entspricht dem Image, das durch Tarantino etc. -Filme geprägt ist: Es herrscht Aberglauben, gibt teilweise kein fließend Wasser, auch sonst wirkt alles rückständig und einfach nur verroht. Diese Darstellung hielte ich nicht für problematisch, wenn das Image Mexikos hierzulande vielfältiger wäre. So wird das bestätigt, was man eh schon vermutet.
Dabei ist „Saison der Wirbelstürme“ kein typisch mexikanischer Roman. Es werden kaum mexikanische Celebritys, Politiker*innen, Orte oder Ereignisse genannt; neben der Gewalt gegen Frauen werden die wichtigen anderen Themen, die Narcos, die Korruption, die Morde an den Journalist*innen, kaum thematisiert. Der Roman könnte genauso gut in Kolumbien, Malaysia, Neuseeland oder Nigeria spielen – und zementiert für viele Rezipient*innen, so befürchte ich, dennoch das Mexiko-Bild. Anyhow: Gerne gelesen. Dass das nicht für jede*n erträglich ist, ist auch verständlich. Herausheben möchte ich die Übersetzerin Angelica Ammar, die zu recht mehrfach prämiert wurde.
Juan Gabriel Vásquez – Die Reputation (Schöffling, 2016)
„Und jetzt war die Karikatur dort draußen, im wirklichen Universum, in dem die Meinungen Konsequenzen haben und die Reputationen fragil sind, es gab kein Zurück mehr, und Mallarino war es recht so.“
Eine politische Karikatur kann rasch angefertigt werden; es bedarf lediglich ein paar Striche, die besondere physische Merkmale der karikierten Person betonen, um zweifelfrei darzustellen, um wen es sich handelt, dazu ein, zwei pointierte Sätze, die die Situation einordnen. Doch so schnell sie gezeichnet ist, so langanhaltend kann ihr Effekt sein. Kein Mensch weiß das besser als Javier Mallarino, der in den letzten vierzig Jahren mehr als 10.000 Karikaturen in einer Tageszeitung veröffentlicht hat.
Auf einem offiziellen Festakt ihm zu Ehren, bei dem seine Verdienste gewürdigt werden, lernt er eine Reporterin kennen, die ihn am nächsten Tag wegen eines Interviews besucht. Im Verlauf des Gespräches stellt sich heraus, dass die Frau gar keine Journalistin ist, sondern ihn aus privatem Interesse mit ihm sprechen wollte: Sie sind sich in der Vergangenheit bereits einmal begegnet, teilen ein Ereignis, das 28 Jahre zurückliegt, aber weitreichende Folgen hatte.
Welche Auswirkungen können Bilder, welche nicht bewiesene Vorwürfe haben? Welche Verantwortung trägt ein Einzelner? Und wie umgehen mit einer traumatischen Situation, an die man sich nicht erinnert, die man nur erzählt bekommt? Diesen Fragen geht der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez in seinem sechsten Roman „Die Reputation“ (übersetzt von Susanne Lange) nach. Der Roman ist recht knapp, gleicht eher einer Novelle, und lässt dadurch den Leser*innen viel Raum, selbst Antworten auf diese Fragen zu finden. Ein wenig hat mir persönlich die politische/zeithistorische Komponente gefehlt (von Kolumbien und dem Leben der Journalist*innen und Politiker*innen in dem Land bekommt man wenig mit), die moralischen Probleme, die geschildert werden, machen „Die Reputationen“ trotzdem zu einem lesenswerten Roman.
Fernando Contreras Castro – Única blickt aufs Meer ist jetzt auch bei mir angekommen. Bin gespannt! Danke für deinen lateinamerikan. Bookstagram :)
LikeGefällt 1 Person