
Madame Nielsen – Das Monster (KiWi, 2020)
„…und mehrere Male ertappte er sich dabei, dass er sich zu erinnern versuchte, exakt was er nachts zuvor gesagt oder getan hatte, und es mit einer Präzision zu wiederholen, welche die ihre überträfe, und ihr Leben somit ernsthaft als den dilettantisch gescheiterten Versuch bloßzustellen, etwas zu wiederholen, das nie wirklich stattgefunden hatte, und in kurzen lichten Momenten hatte er tatsächlich das Gefühl, ins Schwarze zu treffen und vollkommen eins zu sein mit dem, der er vierundzwanzig Stunden vorher gewesen war, doch zumeist misslang es ihm, oder er hatte plötzlich keine Ahnung, was er eigentlich in der Nacht davor gesagt oder getan hatte (als wär’s nicht er gewesen, sondern ein völlig anderer), und wieder einmal zeigte sich deutlich, wie souverän sie waren, und wie vollkommen verloren und in ihrer Gewalt er war.“
Im, sagen wir mal, Herbst 1993 kommt ein junger Mann nach Manhattan, um sich dort der Theater- und Performancegruppe Wooster Group rund um Willem Dafoe und Elizabeth LeCompte anzuschließen. Wer genau dieser junge Mann ist, bleibt unklar, wahrscheinlich ein Europäer, vielleicht ist er als Musiker mal in der Sowjetunion aufgetreten und hat dort Geschichte geschrieben. Behauptet er zumindest. In den Kneipen der Stadt verwechselt man ihn mit Willem Dafoe, so ähnlich sehen sich die beiden.
Während die Wooster Group Tag für Tag die immer gleichen Handgriffe als eine Art Show aufführt und er am Rande danebensitzt und auf seine Chance wartet, findet sich der Protagonist nachts in einer ganz anderen bizarren Performance wieder: Durch Zufall landet er bei schwulen Zwillingen, die mit und an ihm fortan jede Nacht, einem einzigen Muster folgend, ein weirdes Kunst- und Sexspiel – samt Andy-Warhol-Werken (der Fixpunkt des Roman), Stromschlägen, mit Velours ausgekleideten Zimmern und Vergewaltigungen, die möglicherweise einvernehmlich sein könnten – durchführen.
Madame Nielsens avantgardistischer Roman „Das Monster“ (aus dem Dänischen übersetzt von Hannes Langendörfer) bewegt sich auf verschiedenen Ebenen. Einerseits erfahren wir konkrete Informationen wie die genauen Angaben der Orte und Straßen, die der Protagonist aufsucht, andererseits bleibt das Buch abstrakt: Wer ist er, was seine Vergangenheit? Wird ein Winter erzählt oder doch ein ganzes Jahr? Was hat es mit den ewigen Wiederholungen seiner täglichen und nächtlichen Erlebnisse auf sich?, wodurch dem Text eine Unwirklichkeit anhaftet, die die Leser:innen alles in Zweifel ziehen lassen. Was ist die Realität und was Illusion? Existiert überhaupt einen Unterschied zwischen diesen beiden vermeintlich dichotomischen Konzepten? Und spielen diese Fragen eine Rolle?
So experimentell, verstörend, vielschichtig und abgefahren der Roman ist, hat er leider einige homofeindliche und rassistische Stellen. Während Homosexualität ein Motiv in „Das Monster“ ist und ich bei Madame Nielsen als queerer Autorin davon ausgehe, dass besagte Stellen inhaltlicher Natur sind und mit der Gedankenwelt des Protagonisten in Zusammenhang stehen, wird Race beziehungsweise Rassismus überhaupt nicht thematisiert – es gibt also keinerlei Grund für diese Textabschnitte (vielen Dank hier an Sarah Jørgensen für die Einordnung). Und so wenige es sind, war das beim Lesen doch sehr unangenehm (ein paar der Begriffe hätte auch das deutsche Lektorat sensibler anpassen können), dass ich diesen Roman nicht wirklich empfehlen möchte. Schade, ist er sonst wirklich interessant.
Ann Petry – The Street (Nagel und Kimche, 2020)
„Schwer zu sagen, was schlimmer war – dass er allein in der engen, trostlosen Wohnung hockte oder dass er draußen spielte, wo der heftige Verkehr auf der 116th Street … noch das geringste Problem war … um andere Gefahren der Straße zu erkennen, war Bubb zu klein. Etwa die Gangs, die Knirpse wie ihn gern rekrutierten, weil man sie gut vorschicken konnte.“
Dieses Buch wird nicht gut enden. Dieses Buch wird nicht gut enden, und das zu sagen ist kein Spoiler, sondern von der ersten Seite an klar. Afroamerikanerin Lutie, die Protagonistin des wiederentdeckten Romans „The Street“ von Ann Petry, lebt mit ihrem Sohn, genannt Bubb, im Harlem der vierziger Jahre. Sie zieht in eine kleine Wohnung in der 116th Street, arbeitet hart, um sich die Miete leisten zu können, und hat keinerlei soziales Netz – und somit muss sich der achtjährige Bubb nach der Schule alleine beschäftigen, bis seine Mutter von der Arbeit kommt. Damit nicht genug, macht der Hausmeister des Gebäudes Lutie das Leben zur Hölle. Die wenigen Hoffnungsschimmer, die sich hie und da auftun, zerschlagen sich ebenso schnell wieder. Ein Happy End kann es nicht geben, so sehr man es Lutie und Bubb wünscht.
Ann Petrys Debüt (neu übersetzt von Uda Strätling) ist allein schon wegen der Publikationsgeschichte eine Sensation, verkaufte sich das Buch nach der Erstveröffentlichung 1946 immerhin 1,5 Millionen Mal – und das, wo die wenigen Frauen, die damals schrieben und verlegt wurden, weiß waren. Schwarze Autorinnen kannten die USA bis dato kaum.
Bei Lutie, mit allen Kräften um sozialen Aufstieg bemüht, damit sie ihrem Sohn eine bessere Zukunft bieten kann, greifen Rassismus, Sexismus und Klassismus zugleich. Gerade die Männer verwehren ihr aktiv jegliche Chance, sich aus ihrer Lage zu befreien. „The Street“ ist ein starkes wie deprimierendes Sozialporträt, ein Gesellschaftsroman, der dicht und anhand einer komplexen Hauptfigur die harte Realität der Schwarzen Bevölkerung im Harlem zum Ende des Zweiten Weltkriegs schildert. Empfehlung!
Edmund White – City Boy (Albino, 2015)
„Der Rest des Landes fand New York entweder beängstigend oder lächerlich, doch für uns war es der einzige freie Hafen auf dem gesamten Kontinent. Nur in New York konnte man mit einem Angehörigen des gleichen Geschlechts Hand in Hand gehen.“
1962 kommt der damals 22-jährige Edmund White nach New York. Es ist die Zeit, in der eine Wohnung im Greenwich Village noch 100 Dollar kostet, in der man erst mit Freund*innen über die Rolle der Kunst in der Sowjetunion diskutiert, um dann auf dem Nachhauseweg im Zickzack zu laufen, weil einige Blocks sicher sind, die anderen aber hochgradig gefährlich. White stürzt sich in das schwule Leben der Stadt und versucht gleichzeitig, ein bekannter Romancier zu werden.
In „City Boy“, übersetzt von Joachim Bartholomae und im Original 2009 erschienen, lässt er die sechziger und siebziger Jahre Revue passieren, erinnert sich an die Zeit vor und nach den Stonewall Riots 1969, die nur das i-Tüpfelchen der Revolution waren, an die vielen schlechten Jobs, und an den langsamen Erfolg als Schriftsteller, bis er irgendwann mit illustren Persönlichkeiten wie Susan Sontag befreundet ist.
Dieses Memoir mit den vielen Namen, Straßen, Kneipen, Clubs, den darin erwähnten Büchern und Filmen, liest sich wie die Straßenkarte eines queeren Manhattans, das in dieser Form schon lange nicht mehr existiert. Es ist unglaublich interessant zu verfolgen, wie White und seine fellow schwulen Autoren die Literaturszene und die Gesellschaft aufmischten und vorantrieben (bis Aids dieser Bewegung den Garaus machte).
Allerdings: Man darf nicht vergessen, dass hier ein weißer Mann Jahrgang 1940 schreibt – an einigen Stellen lesen sich die Beschreibungen von Frauen sexistisch, die von Puerto Ricanern exotisierend. Der größte Kritikpunkt, den ich persönlich an „City Boy“ habe, ist der, dass Edmund White mit unglaublich vielen Namen um sich wirft. Wenn man in der Künstler*innen- und Intellektuellenszene New Yorks (und der USA und Frankreichs) dieser Zeit nicht super sattelfest ist, wird es mitunter schwierig, zu folgen. Außerdem gibt es immer wieder Exkurse, Mini-Biografien quasi, zu den Leben der Wegbegleiter*innen Whites, bei denen noch mehr Namen erwähnt werden. Uff.
Ein bisschen Durchhaltevermögen ist also gefragt. Trotzdem ist „City Boy“ ein sehr lesenswertes Buch, wie die schwule, männliche Version von Patti Smiths „Just Kids“, das zur gleichen Zeit in derselben Stadt und einer ähnlichen Szene spielt, und dennoch kaum Überschneidungen hat (immerhin kannte White Robert Mapplethorpe). Empfehlung für alle, die sich für LGBTQ-Themen, New York, die Intellektuellenszene der sechziger und siebziger Jahre und die politische und gesellschaftliche Stimmung damals in den USA interessieren.