
„Die Mechanismen, die in die Zukunft und Gegenwart hineinreichten, fehlgeleitete Traditionen, die Struktur und Eigendynamik der Gewalten, die Jugoslawien zerrissen hatten. All das war Teil unserer Familie. Nichts war unumkehrbar, nichts unvermeidlich. Wo hatte es angefangen, wann hatten wir angefangen, uns mitreißen zu lassen, wann und wie war der große politische Konflikt in unseren Mikrokosmos gesickert?“
Ein Land, das zerbricht, eine Familie, die zerbricht. Nach vielen Jahren des Schweigens, höchstens zähen Kontakts, setzt sich Billy Bana jetzt, da der Vater in Serbien verstorben ist, emotional mit ihrer Familie auseinander. Billy heißt eigentlich Biljana Banadinović, einen Namen, den sie lange abgelegt hat, um als Künstlerin erfolgreich zu sein. Doch während es leicht ist, in einen neuen Namen zu schlüpfen, kann sie dadurch noch lange nicht der eigenen Vergangenheit entfliehen. Diese Vergangenheit, das sind ihr kleiner Bruder Jonas Neven und ihre Eltern Sima und Azra.
Die Eltern waren als Gastarbeiter:innen von Jugoslawien nach Wien gezogen, hatten Tag und Nacht gearbeitet und versucht, sich der österreichischen Gesellschaft anzupassen, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Vom Rebellentum ihrer jungen Jahre, von denen die Leser*innen in Rückblicken erfahren, weiß Billy als Teenagerin wenig. In den Augen der damals Siebzehnjährigen sind Azra und Sima angepasst, duckmäuserisch. Und so, wie die Eltern einst voller Freiheitsdrang mit der älteren Generation brachen, bricht auch Billy mit ihnen, macht es ihnen, ohne es zu ahnen, gleich, und verlässt das Elternhaus. Das Schweigen auf beiden Seiten führt zu einem jahrzehntelangen Cut, der kaum mehr zu kitten ist, und den der Bruder als Kollateralschaden miterleiden muss.
„Zorn und Stille“ von Sandra Gugić ist ein Buch über innerfamiliäre Beziehungen und Probleme zwischen den Eltern und den Kindern, zwischen Azra und Sima und zwischen den Geschwistern, erzählt vom Unverständnis, aber auch von der Liebe, die überdauert. Zunächst aus der heutigen Sicht Billys, später auch aus der von Azra im Jahr 2008 und der von Sima im Jahr 1999 geschildert, setzt sich die Geschichte mosaikartig zusammen, zeigt durch die verschiedenen Perspektiven, dass es nicht die eine Wahrheit gibt und wie viel Schaden Missverständnisse, Misskommunikation und die daraus resultierende Enttäuschung anrichten können.
Ebenso wie ein Familienroman ist „Zorn und Stille“ auch ein politischer Roman. Denn diese auseinanderfallende Familie ist nicht zu verstehen ohne das auseinanderfallende Jugoslawien, den Krieg, der alles durchzieht, und die Frage, was Heimat eigentlich ist und wo. Nicht nur Serbien, auch Österreich spielt eine wichtige Rolle, indem Gugić mehrere Jahrzehnte politische und gesellschaftliche Ereignisse subtil in die Handlung einfließen lässt. Trotz einer leisen Wut ist der Roman aber frei von Anklage, von einem erhobenen Zeigefinger. „Zorn und Stille“ ist leise erzählt, in einer poetischen Sprache, ohne dabei Bilder zu strapazieren, und mit einer sanften Melancholie, die immer mitschwingt.
Es gibt Mysterien, die niemals gelöst werden, unzählige Fragen, die offen bleiben, ob sie das untergegangene Land betreffen oder die zerrissene Familie. Und wo es niemals Antworten geben wird, muss man, wie es Billys Mutter Azra es tut, lernen, mit den Leerstellen der Gegenwart leben – und auch mit jenen der Vergangenheit. Der Zorn verblasst, die Stille bleibt.
Sandra Gugić – Zorn und Stille
Hoffmann und Campe, Hamburg
August 2020, 240 Seiten
„Die Jugoslawienkriege begannen in den Köpfen, fremde Stimmen brachten den Krieg in die vier Wände unseres Zuhauses … Der allgemeine Zersetzungsprozess aber begann von innen, nahm seinen Anfang in einer Welle von Hass und Vorurteilen, im Informationskrieg zwischen den verschiedenen Seiten und Republiken, eine Welle, die meine Eltern mit sich nahm, sie waren überzeugt, alles sei Propaganda gegen unsere Leute. Ich verstand nicht, wer unsere Leute sein sollten, warum wir plötzlich Serben waren.“