Till Raether – Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?

„Aber das Tückische an der milden Depression ist, dass sie so beherrschbar wirkt; denn vielleicht ist sie ja auch nur das Leben. Und leben, das wird man ja wohl noch hinkriegen, so von Tag zu Tag. Und gleichzeitig lähmt sie einen: Denn was, wenn sie einen in Wahrheit doch gerade am Leben hindert, und man merkt es nicht, weil man zu beschäftigt ist, sich zusammenzureißen?“

Ich bin eine hervorragende Kellnerin. Ich bin schnell, multitaskingfähig, belastbar und witzig. Ich habe auch meistens recht Spaß an dieser Arbeit, soweit man Spaß beim Arbeiten haben kann. Gleichzeitig gibt es wenig schlimmere Jobs als das Kellnern, wenn man Depressionen hat. Wenn sich die Kälte im Inneren dicht wie Blei anfühlt (Till Raether findet das Bild vom „grauen Schimmelpilz“), dann ist flink sein und lustig und mit so vielen Menschen sprechen fast unmöglich. Es ist viel, viel krasser, als mit Schmerzen arbeiten oder krank oder 16 Stunden am Stück ohne Pause. Habe ich alles getan, es ist kein Vergleich. Temporär für den Abend geht es irgendwie, sich dann zusammenzureißen, weil man halt muss, weil das ein Job ist, der unmittelbar und ohne Aufschub jetzt in diesem Moment gut laufen muss, weil sich Kund*innen wie Kolleg*innen gleichermaßen darauf verlassen, dass man funktioniert. Ich habe das in meinen depressiven Phasen immer irgendwie geschafft, aber das durchzuziehen war krass auf so eine Art, wie sie Menschen ohne Depressionen nicht nachvollziehen können.

Ich sage in diesem Text oft „Ich“, weil Till Raether das in seinem Buch „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“ auch tut, und weil ich wie er davor zurückschrecke, mein persönliches Erleben verallgemeinern zu wollen. Ist auch nicht möglich, und so kann auch ich einiges, von dem Till schreibt, sehr gut nachvollziehen, andere Gefühle, die er formuliert, sind mir wiederum fremd.

Till ist ein „hochfunktionaler Depressiver“, also ein Mensch, der sich selbst mit Depressionen beziehungsweise in depressiven Phasen irgendwie noch durchwurschtelt, mit Hängen und Würgen vielleicht, aber nach außen trotzdem mit sehr guten Leistungen. Er bezeichnet das als eine „Halb- oder Dreivierteldepression“, und ausgehend davon diagnostiziere ich mir eine Vierteldepression. Mir geht’s fast immer gut, und wenn nicht, kriege ich selbst das Kellnern noch hin, auch wenn ich im Nachhinein nicht mehr weiß, wie mir das möglich war. Fast immer gut meint wirklich fast immer gut, ich habe Glück. Ich kann diesem auch mir verhassten Rat, dem Till zurecht ein ganzes Kapitel widmet, für mich meistens umsetzen, ich kann mich zusammenreißen. Aber hinter jedem normalen Tief, das jeder Mensch kennt, lauert bei mir der Abgrund. Ich kriege fast immer die Kurve, und dann ist wieder alles okay. Ich habe aber vor Langem die Illusion verloren, dass das alles irgendwann mal ganz von alleine weggeht, das hatte ich früher mehrfach gehofft und bin mehrfach eines Besseren belehrt worden. Ganz weg ist es eh nie, weil ich weiß, wie schnell, unerwartet und auch „grundlos“ ich in eine depressive Phase rutschen kann. Wie Till es im Buch sagt: „Das Ermüdende an der Depression ist, dass sie immer noch und immer wieder da ist, auch wenn sie weg ist.“

Immer zu funktionieren kann extrem anstrengend sein. Auch ich habe mich heimlich bei dem Gedanken erwischt, denn Till zugibt, dass richtig depressiv sein „einfacher“ wäre. Das ist natürlich total panne, es stimmt nicht und es ist abgefuckt gegenüber Menschen mit starken Depressionen, sowas zu sagen oder auch nur zu denken. Und doch kenne ich diesen Wunsch, der in bestimmten Phasen aufblitzt, einfach loslassen zu wollen, sämtliche Verantwortung für mich abgeben und dann wirklich nicht mehr aufzustehen, weil es nicht mehr geht – anstatt immer zu funktionieren.

Das hier ist keine Rezension, und es soll auch keine werden. Das hier sind recht ungeordnete Gedanken und Eindrücke zu dem Buch, und vor allem ist es eine nachdrückliche Leseempfehlung. Ich lese nicht gerne über Depressionen, weil es mir danach oft nicht besser geht, und wahrscheinlich hätte ich auch zu diesem Buch nicht gegriffen, hätte ich nicht regelmäßigen Kontakt zu Till. Ich bin froh, dass ich es getan habe. Ich bin froh um dieses Buch, weil jeder Text dazu beiträgt, dass diese Krankheit und Mental Health Issues generell entstigmatisiert und besser verstanden werden.

Das Gute an „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“ ist, dass es zwar sehr persönlich und ehrlich ist, aber auf eine Weise doch analytisch, nüchtern und distanziert genug, sodass das Buch nicht triggernd ist. Deswegen kann ich es definitiv Menschen mit Depressionen empfehlen. Es tröstet zu wissen, dass man nicht alleine ist. Und jenen, die Menschen mit Depressionen kennen, empfehle ich es sogar noch mehr. Das werden alle von euch sein, auch wenn ihr es vielleicht gar nicht wisst – weil in eurem Umfeld hochfunktionale Depressive sind, denen man kaum etwas anmerkt.

Till Raether – Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?
Rowohlt Polaris, Hamburg
März 2021, 128 Seiten


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