
Ich analysiere sehr gerne die Wechselwirkung von Popkultur und Gesellschaft, also wie gesellschaftliche und politische Strömungen in fiktionalen Werken verhandelt werden ebenso wie den Einfluss, den progressive Ideen der Popkultur auf gesellschaftlichen Wandel haben können.
Ganz hervorragend eignen sich dafür Serien, weil diese im besten Fall über viele Jahre laufen und daher ein guter Barometer für Veränderung und Weiterentwicklung sind. Teilweise lohnt es aber auch, sich einzelne Folgen anzuschauen. Zum Beispiel die von „Golden Girls“, als auf dem Höhepunkt der Aids-Panik HIV auf eine angemessene Art diskutiert und ins Mainstream-Fernsehen geholt wurde. Oder die eine Episode von „King of Queens“, in der ausgerechnet diese Serie so sensibel wie kaum eine andere das Thema Fehlgeburt behandelte.
„Girls“ zwischen Kritik und Brillanz
Die Millennials-Serie „Girls“ (2012-2017) von und mit Lena Dunham, die von vier Frauen Anfang, Mitte 20 in Brooklyn erzählt, stand von der ersten Staffel an unter Kritik, vor allem wegen des durch und durch weißen Haupt- und Nebencasts. Ausgerechnet Ta-Nehisi Coates war es, der Lena Dunham diesbezüglich Rückendeckung gab. „I think storytellers–first and foremost–must pledge their loyalty to the narrative as it comes to them”, sagte er kurz nach der Serienpremiere in einem Artikel im Atlantic.
I don’t believe in creating characters out a of desire to please your audience or even to promote an ostensible social good. I think good writing is essentially a selfish act–story-tellers are charged with crafting the narrative the want to see. I’m not very interested in Lena Dunham reflecting the aspirations of people she may or may not know. I’m interested in her specific and individual vision; in that story she is aching to tell. If that vision is all-white, then so be it. I don’t think a story-teller can be guilted into making great characters.
So viel man kritisieren kann, so viel Großartiges hatte „Girls“ aber auch. Erzählerisch gab es brillante Momente und einige wirklich herausragende Episoden. Jede der sechs Staffeln hat eine Stand-Alone-Folge (auch „bottle episode“ genannt), also eine Folge, die sich außerhalb des narrativen Strangs der restlichen Staffel befindet, eher wie ein Kurzfilm funktioniert. Fantastisch ist etwa „One Man’s Trash“ in der zweiten Staffel über die kurze Affäre von Hannah (Lena Dunham) mit einem reichen Mann. Oder „The Panic in Central Park“ in der fünften Staffel, eine Hommage an New York City.

„That stuff never goes away”
In der Stand-Alone-Folge „American Bitch“ der sechsten Staffel von „Girls“, die am 26. Februar 2017 und somit mehrere Monate, bevor die MeToo-Bewegung ins Rollen kam, ausgestrahlt wurde, wird sexualisierte Gewalt und Machthierarchien zwischen Männern und Frauen im Literaturbetrieb verhandelt. Die Folge ist exzellent geschrieben, weil die Grenzverschiebung unheimlich subtil und graduell geschieht, deswegen sei sie hier recht ausführlich nacherzählt.
In der Episode wird Hannah von Chuck Palmer (Matthew Rhys), einem Autor zahlreicher Bestseller, der viele Preise gewonnen und casually ein Foto von sich und Toni Morrison im Wohnzimmer stehen hat, zu sich nach Hause eingeladen. Er hat einen Text von ihr in einem feministischen Blog entdeckt, in dem sie Aussagen von vier Studentinnen, die ihn auf Tumblr bezichtigen, sie zu Blow-Jobs gezwungen zu haben, aufgreift und kommentiert. Zu Beginn des Besuchs ist Hannah sehr reserviert, möchte ihre Tasche nicht an die Garderobe hängen, weil sie vorhat, gleich wieder zu gehen, die Körperhaltung ist angespannt, sie schnippisch.
Was dann passiert, ist Manipulation par excellence. Erst spricht Chuck über seinen zerstörten Ruf, dann erwähnt er seine Tochter, um daraufhin eine Teilschuld einzugestehen: Dass er seine Ex-Frau betrogen, dass er Frauen belogen habe – aber sexualisierte Gewalt streitet er vehement ab. Ja, er lade Frauen zu sich aufs Hotelzimmer ein, aber was diese von ihm wollten, sei die Erfahrung, um danach eine Story erzählen zu können. Wer habe also eigentlich die Macht, er, der mittelalte, weniger hübsche Mann, oder die jungen, schönen Frauen?
So leicht gewinnt er Hannah aber nicht. Sie erzählt von einer unangenehmen Erfahrung, die sie mit einem übergriffigen Lehrer gemacht hat, und sagt mit Nachdruck: „That stuff never goes away.“ (Jetzt verstehe er, warum sie getriggert wurde, kommentiert Chuck pseudo-verständnisvoll.) Als Chuck ihr vorschlägt, ihr etwas vorzulesen, bleibt Hannah. Sie wie auch die Zuschauer*innen beginnen langsam zu zweifeln: War es am Ende doch so, wie Chuck Palmer erzählt? Hannahs Körperhaltung ändert sich, sie ist entspannter und setzt sich zu ihm aufs Sofa. Chuck sagt, dass sein großer Fehler war, die Tumblr-Frauen nicht besser kennenzulernen, und diesen Fehler wolle er bei ihr wieder gutmachen. Er fragt sie, was sie für ein Mensch sei und was sie für Wünsche habe, und Hannahs Ego legt sie rein. Sie lacht zum ersten Mal und gesteht dann, dass sie zu vorschnell über ihn geurteilt hat.

Grauzonen
Sie landen im Schlafzimmer, wo Chuck wertvolle Bücher aufbewahrt, und er schenkt Hannah ein signiertes Philip-Roth-Exemplar. Doch dann kippt die Situation. Chuck legt sich aufs Bett und bittet Hannah, sich dazuzulegen: „I just want to feel close to someone in a way I haven’t in a long time.“ Hannah muss sich sichtlich überwinden, alle Zweifel sind wieder da. Trotzdem legt sie sich neben ihn. Es kommt, wie es kommen muss: Chuck dreht sich zu ihr, den Penis aus dem Hosenstall hängend. Wie automatisch greift Hannah kurz danach, bevor sie aufspringt und ihn anschreit, während er nur grinst.
Da ist sie, die Grauzone, in die er sie geschickt manövriert hat und sie sich hat manövrieren lassen. Weder hat er sie dazu gezwungen, ins Schlafzimmer zu gehen, noch hat er sie dazu gezwungen, sich zu ihm aufs Bett zu legen. Das rechtfertigt seine weitere Tat nicht, das ist klar. Aber da Hannah ihn aus einer Art Impuls heraus anfasst, ist Chuck aus dem Schneider – sie hat es freiwillig getan; dennoch ist der Machtmissbrauch offensichtlich. Es ist ein krasser Graubereich.
Schließlich taucht die Tochter auf, und weil Hannah Hannah ist, bleibt sie, anstatt die Wohnung zu verlassen. Am Ende sitzen Chuck und sie wieder auf getrennten Sofas, hören der Tochter beim Klarinette spielen zu, und Hannah beobachtet Chuck, der nicht nur stolz auf seine Tochter ist, sondern auch deswegen strahlt, weil er das bekommen hat, was er mit der Hannahs Einladung intendiert hatte. Er weiß, dass er gewonnen hat.
Uneindeutige Begegnungen
„American Bitch“ stellt ungemein gut dar, wie sexualisierter Missbrauch auch funktionieren kann, wie Chuck Palmer Hannahs Mauer Stück für Stück abträgt, indem er sich selbst degradiert, Fehler zugibt und sie zugleich wiederholt lobt, zu einer Vertrauten macht – nur um dieses Vertrauen vollkommen auszunutzen. Die Episode zeigt, dass sich die Frage „Warum bist du nicht einfach gegangen?“ nicht immer so einfach beantworten lässt.
„A lot of women walk around with a lot of shame about things that don’t look like rape in the traditional way”, erläuterte Lena Dunham in Vulture diese Episode. „I have way less shame about my actual sexual assault than I do about some ambiguous encounters I had with some people in which I wasn’t able to properly express myself or create distance […] when you allow boundaries to be blurred without even knowing that it’s happening, it’s a different kind of pain and shame that eats away at you for a long time.”
Chuck weiß, dass es keine Konsequenzen für ihn geben wird, weil Hannah die Geschichte nicht erzählen kann, ohne nicht auch ihre Naivität, die andere als Mitschuld auslegen könnten, zuzugeben. Hannah hat einen Vertrauensmissbrauch, das strenge Machtgefälle und eine Art sexualisierten Übergriff erlebt, kann aber nichts unternehmen, weil sie sich selbst in diese Situation gebracht hat – vielleicht schon dadurch, dass sie zu einem Mann, dem von mehreren Frauen sexualisierte Gewalt vorgeworfen wurde, nach Hause gegangen ist. Das Schlimmste für Hannah, die Autorin, ist vielleicht, dass Chuck ihr, die sich in der ersten Folge der Serie als „die Stimme ihrer Generation“ bezeichnet hat, die Stimme genommen hat, es ihr unmöglich ist, diese Begegnung jemandem zu erzählen.
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