Fatma Aydemir – Dschinns

„Assimilation, dachte Peri, hatte eben keine Geschichte. Sie war das Gegenteil von Geschichte. Sie war ihr Ende, ihre Ausrottung. Sie war die Leere im Herzen, wann immer jemand von Heimweh sprach.“

Ein Leben lang hat er in einer süddeutschen Kleinstadt in einer Fabrik geschuftet, um für sich und die Familie den Traum wahrwerden zu lassen: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Doch wenige Tage vor seiner Rente stirbt Hüseyin überraschend. Seine Frau und vier Kinder, die seit vielen Jahren nicht mehr zusammen an einem Ort waren, reisen zu Beerdigung an und müssen sich mit all dem Ungesagten, den Geheimnissen, Verlusten und den unterdrückten Gefühlen, die ihre Beziehungen seit jeher beeinflussen, auseinandersetzen.

Das ist die Prämisse von Fatma Aydemirs zweitem Roman „Dschinns“. Nacheinander erzählen die Geschwister aus der Ich-Perspektive von ihrem Leben, gerahmt von Kapiteln aus der Sicht der Eltern. Diese wiederum sind in der zweiten Person geschildert, was Hüseyin und Emine zugleich Distanziertheit wie Direktheit verleiht – als Leser*in fühlt man sich bei der Du-Ansprache unweigerlich angesprochen, während die Eltern aber nicht für sich selbst reden dürfen.

„Dschinns“ ist ein großartiger Roman, und das auf mehrere Weise. Aydemirs Figuren sind vielschichtig. Sie alle sind geprägt durch das Schweigen in der Familie, „einer Familie, die fortwährend spricht, ohne etwas preiszugeben“, in der es unüblich ist, dass man „unangenehme Fragen, intime Fragen, wichtige Fragen“ zu stellen, „auch wenn man Gefahr läuft, sich dabei selbst zu verletzen“. Worüber nicht gesprochen wird, ist individuell, wie es sich auf die Protagonist*innen auswirkt, ebenfalls – bis auf die Tatsache, dass sie alle eine wütende Enttäuschung, ein nagender Frust quält.

Aydemir erzählt die Wut der Familienmitglieder nicht wütend, sondern nüchtern, was sie umso eindringlicher macht. „Dschinns“ ist ein dichter, intensiver Roman über eine Familie, die niemals heil war und doch irgendwie versucht, sich zu kitten – ohne Aussicht auf Erfolg. Im Hintergrund schwingt immer auch die politische Lage mit, die sich auf die Sechs auswirkt, die rassistischen Anschläge im Deutschland der 1990er ebenso wie die Frage, ob sie Türk*innen oder in echt aber Kurd*innen sind. Ich persönlich wünschte, mehr deutschsprachige Literatur wäre so gut. Die Buchpreis-Shortlist ist drinnen.

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Fatma Aydemir – Dschinns
Hanser, München (Ausgabe hier Büchergilde Gutenberg)
Februar 2022, 369 Seiten


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